Editorial 6/2021: Operieren als letzte Option
- 15.06.2021
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- Sabine Schmidt
Die wissenschaftliche Studienlage hingegen legt nahe, dass Menschen, die einmal einen BMI von über 40 erreicht haben, nur geringe Chancen haben, wieder ein Normalgewicht zu erlangen. Nur ca. jede/jeder zwanzigste Betroffene mit überaus günstigen Rahmenbedingungen nimmt in Programmen mit Ernährungs-, Verhaltens- und Bewegungstherapie signifikant (das entspricht nur ca. 5–10 %) ab.
An dieser Stelle kam schon vor über 60 Jahren der Versuch ins Spiel, Adipositas per Operation zu heilen, wie Heike Raab in ihrem Artikel zu Entwicklung und Perspektiven von Adipositas-Operationen erläutert (⇒ S. M334). Die ersten Operationsmethoden verursachten durch Umgehung großer Abschnitte des Dünndarms langfristig schwerste Mangelerscheinungen. Im Lauf der Jahrzehnte entwickelten sich die Techniken und Ansätze aber enorm weiter, bis zu laparoskopischen Techniken, die malabsorptive mit volumenverkleinernden Verfahren kombinieren und heute im Vordergrund stehen.
Auch wenn manche PatientInnen nach einer Operation wieder zunehmen – viele Operationen sind erfolgreich. PatientInnen nehmen enorm ab und viele können das Gewicht nachher halten, zumindest in den Follow-ups der bisher durchgeführten Studien. Weil sich durch die Operationen nicht nur das Gewicht, sondern auch metabolische Parameter verbessern, sich z. B. ein Diabetes mellitus Typ 2 wieder zurückbildet, werden die Operationen inzwischen unter dem Gesichtspunkt der metabolischen Chirurgie gesehen und die Anzahl an Operationen hat sich vervielfacht.
Ist eine OP – die in Deutschland nur nach nachgewiesenem Versagen einer konservativen Therapie möglich ist – also der Weisheit letzter Schluss? Operationen haben ihren Platz in der Therapie gefunden, erläutert Prof. Matthias Blüher im Interview mit der ERNÄHRUNGS UMSCHAU dazu ab S. M341. Adipositas wird nach jahrelangen Forderungen von ExpertInnen heute als chronische Krankheit eingestuft. Operationen bieten im Therapiekonzept eine Chance auf ein niedrigeres und damit gesünderes Gewicht, wenn nichts anderes geholfen hat.
Schaut man sich die Entwicklung der Adipositasforschung an, scheint es mir vor diesem Hintergrund an der Zeit, sich als Fachkraft der Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas als „fehlerbehaftet“ oder „versagend“ entschieden entgegenzustellen. Die Bemühungen von MedizinerInnen und TherapeutInnen sollten auf zwei Schienen gebündelt werden: Als erstes und wichtigstes die Prävention zu stärken, damit weniger Menschen in ein nicht mehr kontrollierbar hohes Gewicht kommen. Als zweites flächendeckend und ausgerichtet an der existierenden Leitlinie eine qualitätsgesicherte Therapie zu implementieren, um den Erkrankten zu helfen.
Ihre
Sabine Schmidt
Dieses Editorial finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 6/2021 auf Seite M305.