Junge Forschung: Zwischen Kinderschutz und Marktfreiheit

  • 15.07.2024
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  • Sabine Kalweit
  • Sandra Pahr-Hosbach
  • Natalie Bäcker

Die Debatte um das Verbot an Kinder und Jugendliche gerichteter Werbung für Lebensmittel mit ungünstigem Nährstoffprofil in Deutschland im internationalen Vergleich

Einleitung
Im Hinblick auf das von der Bundesregierung geplante Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz (KLWG) für Kinder bis 14 Jahre wurde untersucht, welche Auswirkungen international bereits umgesetzte Werbeverbote auf das Ernährungsverhalten der Kinder zeigen und ob hieraus Implikationen für die Umsetzung in Deutschland gezogen werden können. Das KLWG soll umfangreiche Medienkanäle umfassen wie Internet, TV und soziale Medien [1]. Eine Bewertung bzw. Kategorisierung der Lebensmittel soll anhand des von der World Health Organization (WHO) entwickelten Nutrient Profile Model (NPM) erfolgen [1–3]. Kinder im Alter von 3–13 Jahren sind täglich zwischen 11 und 16 Werbeeinheiten in Fernsehen und Internet ausgesetzt, von denen 92 % auf Lebensmittel entfallen, die nicht dem WHO NPM entsprechen [4]. Dabei spielen soziale Medien und das Marketing von Influencer*innen eine zunehmend wichtige Rolle [5–7]. Werbung für Lebensmittel mit einem ungünstigen Nährstoffprofil wurde bereits als bedeutender Einflussfaktor auf das Ernährungsverhalten von Kindern und Jugendlichen nachgewiesen [2, 4, 8–11].
Ziel der Arbeit war es, explizite Evaluationen zu umgesetzten Werbeverboten in anderen Ländern zu finden, die einen Vergleich bestimmter Parameter vor und nach der Gesetzesimplementierung vornehmen.

Methoden
Es gibt bereits einige Übersichtsarbeiten zu den Inhalten internationaler Werbeverbote und deren Wirkung [2, 12–16]. Auf Basis der genannten Übersichtsarbeiten sowie einer Analyse der NOURISHING-Datenbank wurde eine systematische Literaturrecherche in der Datenbank MEDLINE durchgeführt. Für die Recherche wurden Suchkomponenten festgelegt, um einen möglichst zielgerichteten Suchstring zu erstellen.

Ergebnisse
Entsprechende Evaluationen waren für Chile, Großbritannien, Südkorea, Québec/Kanada und Slowenien verfügbar. Für Chile konnte eine Wirksamkeit des Werbeverbotgesetzes in seiner speziellen Zusammensetzung nachgewiesen werden (→ s. hierzu auch „Steuerungsinstrumente im Ernährungssystem. Interview mit Dinah Stratenwerth“ in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 1/2022). Chile’s Law of Food Labeling and Advertising (LFLA) gilt mit 3 Bausteinen (Werbeverbot, Lebensmittelkennzeichnung, Schulverpflegung) als eines der weltweit umfassendsten Gesetze im Bereich Public Health [17–21]. Die Bewertung des reinen Effekts aus dem Werbeverbot war erschwert durch die parallele Implementierung der 3 Bausteine [22]. In Südkorea reformulierten Unternehmen nach Implementierung des Werbeverbots die nach dem Gesetz als ungünstig eingestuften Produkte und veränderten signifikant messbar ihr bestehendes Produktportfolio. Gleichzeitig zeigte sich eine Verlagerung der Werbung auf Onlinekanäle [23].
Die Regulierungen der übrigen Länder waren weniger umfassend und zeigten nur geringe Wirksamkeit: In Kanada bestehen zwei verschiedene Rechtsräume – in der Provinz Québec gilt ein gesetzliches Werbeverbot, ansonsten eine freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen. Es kam zu Umgehungen innerhalb eines Landes. Die gesetzliche Regelung zeigte zwar eine höhere, aber keine effektiv wirksame Eindämmung des Werbeaufkommens [24]. In Slowenien erfolgte eine Verlagerung der „Kinderwerbung“ von Kindersendern auf Erwachsenensender, die auch von Kindern konsumierte Sendungen zeigen [25]. In Großbritannien zeigten sich Regelungslücken und keine konsequente Ahndung von Verstößen, sodass „Kinderwerbung“ die Kinder weiterhin erreichte – über andere Sender oder andere Medien, z. B. das Internet [26]. Großbritannien hat dies erkannt und reformiert sein Werbeverbot aktuell umfassend [27].

Diskussion
Kritiker*innen des KLWG sehen das Gesetz als Totalverbot und bemängeln fehlende Evidenz [28]. Holliday et al. konnten das Argument eines Totalverbots insoweit entkräften, als dass 20 % der Produkte bereits jetzt weiterhin beworben werden dürften und dieser Wert durch moderate Reformulierungen noch deutlich gesteigert werden könnte [3]. Damit dürfte die Lebensmittelindustrie den vom BMEL erhofften Anreiz zu Reformulierungen erhalten [3, 29]. Das Argument der mangelnden Evidenz konnte bestätigt werden, da es an Langzeitstudien mit gesundheitlichen Parametern (Body-Mass-Index, nicht-übertragbare Krankheiten) und an Studien zu digitalem Marketing mangelt. Die Befürworter*innen des KLWG argumentieren, dass eine Evidenz erst zeitverzögert nachgewiesen werden kann: Die Gesetze müssten zunächst im jeweiligen Land umgesetzt werden und vergleichbare Regeln enthalten, um eine Implikation für Deutschland daraus ableiten zu können [30]. Entsprechende Langzeitstudien müssen geplant und durchgeführt werden.

Fazit
Insgesamt konnte keine ausreichende Evidenz erzielt werden, um Aussagen zur Wirksamkeit des geplanten KLWG in Deutschland zu treffen. Vor dem Hintergrund der Wirksamkeit des in Chile umgesetzten LFLA sowie der dargelegten Zusammenhänge zwischen Werbung und Ernährungsverhalten erscheint ein direktes Eingreifen sinnvoll. Es kommt auf eine entsprechende Ausgestaltung unter Berücksichtigung moderner Medien an. Am Beispiel von Chile konnte gezeigt werden, dass ein wirksames Werbeverbot dann greift, wenn es alle relevanten Medien umfasst und Werbung sowohl nach Inhalt als auch im Umfang (zeitliche Komponente im TV, generelles Verbot in digitalen Medien) reguliert wird [19]. Zu überlegen wäre, auf „Role-Models“ und zahlreiche Unterstützungsmöglichkeiten der WHO zurückzugreifen. Sinnvoll ist, die verschiedenen Akteur*innen in einen offenen Dialog einzubinden. Begleitend müssen entsprechende Monitoringinstrumente geschaffen werden, um die Wirksamkeit des Gesetzes und dessen Einhaltung evaluieren und bei Bedarf regulierend eingreifen zu können [2].



Angabe zu Interessenkonflikten und zum Einsatz von KI
Die Autorinnen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht und bei der Erstellung des Manuskripts keine KI-Anwendungen eingesetzt wurden.




Sabine Kalweit, B.Sc.1
Prof. Dr. Sandra Pahr-Hosbach
Prof. Dr. Natalie Bäcker2

IU Internationale Hochschule
Juri-Gagarin-Ring 152, 99084 Erfurt
1 sabine.kalweit@outlook.com
2 natalie.baecker@iu.org



Literatur

  1. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL): Özdemir stellt Gesetzesvorhaben für mehr Kinderschutz in der Werbung vor. www.bmel.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/024-lebensmittelwerbung-kinder.html  (last accessed on 3 April 2024).
  2. World Health Organization (WHO): Policies to protect children from the harmful impact of food marketing: WHO Guideline. 2023. https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/370113/9789240075412-eng.pdf?sequence=1  (last accessed on 3 April 2024).
  3. Holliday N, Leibinger A, Huizinga O, et al.: Application of the WHO Nutrient Profile Model to products on the German market: implications for proposed new food marketing legislation in Germany. 2023. www.medrxiv.org/content/10.1101/2023.04.24.23288785v1.full.pdf  (last accessed on 3 April 2024).
  4. Effertz T: Kindermarketing für ungesunde Lebensmittel in Internet und TV: Projektbericht. Universität Hamburg. 2021. www.bwl. uni-hamburg.de/irdw/dokumente/kindermarketing2021effertzunihh.pdf (last accessed on 3 April 2024).
  5. Effertz T: Kindermarketing für ungesunde Lebensmittel. Monatsschr Kinderheilkd 2022; 170(2): 133–8.
  6. Ernährungs Umschau: BMEL plant mehr Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung. Ernährungs Umschau 2023; 70(4): M206–7.
  7. Feierabend S, Rathgeb T, Kheredmand H, Glöckler S: JIM-Studie 2022: Jugend, Information, Medien. 2022. www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2022/JIM_2022_Web_final.pdf  (last accessed on 3 April 2024).
  8. Norman J, Kelly B, Boyland E, McMahon AT: The impact of marketing and advertising on food behaviours: evaluating the evidence for a causal relationship. Curr Nutr Rep 2016; 5(3): 139–49.
  9. Sadeghirad B, Duhaney T, Motaghipisheh S, Campbell NRC, Johnston BC: Influence of unhealthy food and beverage marketing on children‘s dietary intake and preference: a systematic review and meta-analysis of randomized trials. Obes Rev 2016; 17(10): 945–59.
  10. Smith R, Kelly B, Yeatman H, Boyland E: Food marketing influences children‘s attitudes, preferences and consumption: a systematic critical review. Nutrients 2019; 11(4): 1–14.
  11. Packer J, Croker H, Goddings AL, et al.: Advertising and young people‘s critical reasoning abilities: systematic review and meta-analysis. Pediatrics 2022; 150(6): 1–19.
  12. Boyland E, McGale L, Maden M, Hounsome J, Boland A, Jones A: Systematic review of the effect of policies to restrict the marketing of foods and non-alcoholic beverages to which children are exposed. Obes Rev 2022; 23(8): e13447.
  13. Coleman PC, Hanson P, van Rens T, Oyebode O: A rapid review of the evidence for children‘ s TV and online advertisement restrictions to fight obesity. Prev Med Rep 2022; 26: 101717.
  14. Kelly B, Vandevijvere S, Ng S, et al.: Global benchmarking of children‘s exposure to television advertising of unhealthy foods and beverages across 22 countries. Obes Rev 2019; 20(Suppl 2): 116–28.
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  17. Corvalán C, Reyes M, Garmendia ML, Uauy R: Structural responses to the obesity and non-communicable diseases epidemic: update on the Chilean law of food labelling and advertising. Obes Rev 2019; 20(3): 367–74.
  18. Dillman Carpentier FR, Mediano Stoltze F, Reyes M, Taillie LS, Corvalán C, Correa T: Restricting child-directed ads is effective, but adding a time-based ban is better: evaluating a multi-phase regulation to protect children from unhealthy food marketing on television. Int J Behav Nutr Phys Act 2023; 20(1): 1–11.
  19. Mediano Stoltze F, Reyes M, Smith TL, Correa T, Corvalán C, Carpentier FRD: Prevalence of child-directed marketing on breakfast cereal packages before and after Chile‘s food marketing law: a pre- and post-quantitative content analysis. Int J Environ Res Public Health 2019; 16(22): 4501.
  20. Quintiliano Scarpelli D, Pinheiro Fernandes AC, Rodriguez Osiac L, Pizarro Quevedo T: Changes in nutrient declaration after the food labeling and advertising law in Chile: a longitudinal approach. Nutrients 2020; 12(8): 2371.
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  24. Potvin Kent M, Pauzé E, Remedios L, et al.: Advertising expenditures on child-targeted food and beverage products in two policy environments in Canada in 2016 and 2019. PloS one 2023; 18(1): e0279275.
  25. Lavriša Ž, Hristov H, Kelly B, Pravst I: Regulating children‘s exposure to food marketing on television: are the restrictions during children‘s programmes enough? Appetite 2020; 154: 3–7.
  26. Whalen R, Harrold J, Child S, Halford J, Boyland E: Children‘s exposure to food advertising: the impact of statutory restrictions. Health Promot Int 2017; 34(2): 227–35.
  27. OFCOM Office of Communication: Regulation of advertising for less healthy food and drink: implementation of new statutory restrictions. 2023. www.ofcom.org.uk/__data/assets/pdf_file/0022/254191/Consultation-Regulation-of-advertising-of-less-healthy-food-and-drink.pdf  (last accessed on 3 April 2024).
  28. Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie e. V.: lieber mündig – Gegen Werbeverbote für Lebensmittel. 2023. https://lieber-mündig.de/ (last accessed on 3 April 2024).
  29. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL): Fragen und Antworten (FAQ) – FAQs zum Gesetzentwurf für an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung. 2023. www.bmel.de/SharedDocs/FAQs/DE/faq-lebensmittelwerbung-kinder/faq-lebensmittelwerbung-kinder_List.html #f102452 (last accessed on 3 April).
  30. Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK): www.lieber-mündig.de im DANK-Faktencheck. 2023. www.dank-allianz.de/files/content/dokumente/public/2023-04-11_BVE-Kampagne_Faktencheck-DANK_final.pdf  (last accessed on 3 April 2024).

Lesen Sie zu diesem Thema auch den zweiteiligen Beitrag „Instrumente der Ernährungspolitik“ von Achim Spiller, Anke Zühlsdorf und Sina Nitzko in ERNÄHRUNGS UMSCHAU Heft 3 und 4 2017.

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