23. Ernährungsfachtagung der DGE-Sektion Thüringen: Getreide - Gesund- oder Krankmacher?

Bestimmte Lebensmittel(gruppen) zu verklären oder zu verteufeln ist derzeit Trend. Auch Getreide und daraus hergestellte Lebensmittel sind davon nicht ausgenommen. Bücher, die Übergewicht oder eine ganze Reihe von Krankheiten allein auf den Verzehr von Weizen(mehlprodukten) zurückführen, erreichen hohe Auflagen. Zugleich sind Weizen, Reis und Mais die mit Abstand wichtigsten Nahrungspflanzen für den Großteil der Weltbevölkerung. Die Fachtagung der DGE-Sektion Thüringen am 5. November 2015 in Jena fügte diesem Schwarz-Weiß-Bild wichtige Nuancen und Klarstellungen hinzu.

Zu der Tagung konnten Prof. Dr. Stefan Lorkowski als Leiter der DGE-Sektion Thüringen sowie sein Amtsvorgänger Prof. Dr. Gerhard Jahreis mehr als 300 Teilnehmer begrüßen. Grußworte sprachen der Thüringer Verbraucherschutzminister Dieter Lauinger, der Präsident der Friedrich-Schiller- Universität Jena, Prof. Dr. Walter Rosenthal, und der Dekan der Biologisch-Pharmazeutischen Fakultät, Prof. Dr. Frank Hellwig.

Weit verbreitet ist die These, dass die Zunahme von Zöliakie (s. u.) und anderen Weizenunverträglichkeiten auf einem züchterisch bedingten höheren Glutengehalt heutiger Getreide beruht. Prof. Peter Köhler, Deutsche Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie/Leibniz Institut Freising, widersprach dem. So sind in älteren Sorten und teilweise auch in den derzeit sehr populären Urgetreidesorten Dinkel oder Emmer durchaus höhere Glutengehalte pro 100 g zu finden. Die Glutenaufnahme über Backwaren hat laut Köhler in den letzten 10 Jahren nicht zugenommen. Allerdings wird mittlerweile auch vielen Lebensmitteln, z. B. Suppen und Soßen, Gluten zugesetzt.

PD Dr. Gunnar Loh, Max Rubner- Institut Karlsruhe, und Prof. Matthias Schulze, Deutsches Institut für Ernährungsforschung, Potsdam, schilderten in ihren Vorträgen die Mechanismen und die Evidenzlage zu präventiven Aspekten des Verzehrs von Getreide und Getreideballaststoffen. So ist die Verringerung des Risikos an Darmkrebs zu erkranken, und auch ein geringeres Risiko für Diabetes mellitus Typ 2, mit einer erhöhten Zufuhr korreliert. Daher wird der Ballaststoffverzehr auch im Deutschen Diabetes-Risiko-Test® (http://drs.dife.de/) berücksichtigt. Die Größenordnungen des Effekts (höherer vs. geringerer Verzehr von Vollkornprodukten) sind mit dem eines Altersunterschieds von mehreren Jahren vergleichbar. Verschiedene Mechanismen werden als Grundlage diskutiert, z. B. schnellere Sättigung und beschleunigte Darmtransitzeit sowie direkt protektive und regulatorische Effekte der Mikrobiota. Hierbei spielen v. a. die im Zuge der bakteriellen Fermentation der löslichen Ballaststoffe gebildeten kurzkettigen Fettsäuren eine Rolle. Dabei wirken lösliche und unlösliche Ballaststoffanteile unterschiedlich.
Dies erklärt die teilweise uneinheitliche bzw. schwache Evidenzlage in großen Metaanalysen. Werden diese Unterschiede berücksichtigt, sind mittlerweile deutlichere Effekte zu erkennen (Evidenzgrad „Wahrscheinlich“; www.dge.de/wissenschaft/leitlinien/leitlinie-kohlenhydrate/). Auch muss zwischen der Wirkung der Ballaststoffe selbst und der Wirkung des Austausches anderer Lebensmittel durch ballaststoffhaltige Lebensmittel (was wird bei Steigerung des Getreideverzehrs weniger gegessen?) unterschieden werden.

Als Lieferant löslicher Ballaststoffe kommen nicht nur Getreide, sondern auch einheimische Leguminosen wie Lupinen in Frage. Hierüber berichtete Dr. Anita Fechner, Jena. Die Ballaststoffe – überwiegend beta-Glukane – werden aus den geschälten Lupinensamen extrahiert – als Nebenprodukt der Gewinnung von Lupinen-Protein. In einer Interventionsstudie senkten Lupinen-Ballaststoffe den Gesamt-Cholesterinspiegel bei hypercholesterinämischen älteren Probanden, nicht jedoch bei gesunden jungen Probanden.

Die Prävalenzzahlen für Zöliakie bei Kindern in Deutschland steigen und nähern sich der 1 %-Marke. „Deutschland ist in Sachen Zöliakie keine Insel der Glückseligen, sondern nähert sich dem europäischen Durchschnitt“ (www.aerzteblatt.de/archiv/171573/Zoeliakiepraevalenz-bei-Kindern-und-Jugendlichen-in-Deutschland), stellte Anett Ebock von der Deutschen Zöliakiegesellschaft fest. Sie schilderte die Problematik der betroffenen jungen Patienten, aber auch Beispiele falscher diätetischer Selbstversuche (glutenfreie Diät gegen Autismus).

Die besonderen Eigenschaften von Hafer stellte zum Abschluss Prof. Jahreis, Jena, aus durchaus persönlich geprägter Sicht vor. Die besonderen geschmacklichen Eigenschaften des Hafers sind u. a. in seinem für Getreide auffallend hohen Fettgehalt begründet. Aufgrund des hohen Gehalts an beta-Glukanen dürfen entsprechende Haferprodukte (Flocken, Kleie) mit dem Health Claim „senkt den Cholesteringehalt“ beworben werden. Als besonders anspruchsloses Getreide wird Hafer v. a. auch in skandinavischen Ländern angebaut. Von hier kamen lange Zeit auch die einzigen Haferprodukte, die nicht durch Anbau oder Verarbeitung mit glutenhaltigen Getreiden kontaminiert waren. Mittlerweile ist nicht kontaminierter Hafer auch aus Deutschland verfügbar. Bis zu 50 g/Tag seien für die meisten1 Zöliakiepatienten unproblematisch.

Das Fazit der Referenten in der gemeinsamen Schlussrunde:
• Die Verteufelung von Weizen und/oder der Umstieg auf glutenfreie Produkte ist für Personen, die nicht an Zöliakie oder einer anderen Weizen-/Glutenunverträglichkeit leiden, unsinnig, teuer und sogar problematisch: Glutenfreie Produkte enthalten teilweise mehr Zucker und stellen auch eine sensorische Einschränkung dar.
• Die Entwicklung glutenfreier Lebensmittel stellt für Betroffene eine große und wichtige Bereicherung dar. Diese Fortschritte – z. B. in der Entwicklung verlässlich getrennter glutenfreier Produktlinen – werden gefährdet, wenn „glutenfrei“ (wie auch andere „Frei-von-Produkte“) zum Lifestyle wird und damit teilweise (z. B. in der Gastronomie) nicht mehr ernst genommen wird.
• Für die positiven gesundheitlichen Wirkungen von Getreideballaststoffen gibt es mittlerweile eine gute Evidenzlage. Dabei ist weitere Forschung nötig, um die kausalen Ursachen aufzuklären und auf dieser Basis begründete Verzehrempfehlungen zu geben.

In Zusammenarbeit mit dem Institut für Ernährungswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena wird am 10. November 2016 die „Renaissance des pflanzlichen Proteins in der Ernährung“ das Thema der 24. Ernährungsfachtagung sein.

1 Das Haferprotein Avenin enthält weniger zöliakie-wirksames Prolamin als Gluten.



Den Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 01/16 auf den Seiten M8-M9.

Das könnte Sie interessieren
Medienumschau 10/2024 weiter
Kochsalz aktiviert Anti-Tumorzellen weiter
Fasten verändert den Stoffwechsel in Krebszellen weiter
Ein Beitrag zur Proteinversorgung der wachsenden Weltbevölkerung weiter
Ashwagandha weiter
Großer Lebensmittelkonzern steigt teilweise aus weiter