Gentechnik und Pflanzenzüchtung: Goldener Reis – erste Ernte nach 20 Jahren Forschungskonflikt

(umk) Der aktuelle Welthungerindex [1] erfasst 4 Parameter:
Unterernährung: der Anteil der Bevölkerung, dessen Energiebedarf nicht gedeckt ist
Wachstumsverzögerung bei Kindern: der Anteil von Kindern unter fünf Jahren mit einer zu geringen Größe in Bezug auf das jeweilige Alter, ein Beleg für chronische Unterernährung
Auszehrung bei Kindern: der Anteil von Kindern unter fünf Jahren mit einem zu niedrigen Gewicht in Bezug auf die jeweilige Größe, ein Beleg für akute Unterernährung
Kindersterblichkeit: der Anteil der Kinder, die vor ihrem fünften Geburtstag sterben, was zum Teil das fatale Zusammenwirken von mangelnder Nährstoffversorgung und einem ungesunden Umfeld widerspiegelt.
Der Index zeigt für 2022 eine dramatische Situation und spricht von „düsteren Aussichten“ für 2023. Nicht berücksichtigt wird in diesem Index das Phänomen „Hidden Hunger“, also Mikronährstoffmangel, der auch bei ausreichender oder sogar übermäßiger Energiezufuhr vorliegen und zu Mangelerscheinungen führen kann. Im September 2023 findet hierzu an der Universität Hohenheim der 5. Internationale Hidden Hunger Kongress statt [2].
Vitamin-A-Mangel als Folge allgemeiner Mangel- oder einseitiger Ernährung kann zu Erblindung und erhöhter Kindersterblichkeit führen und ist v. a. in asiatischen Ländern ein bedeutendes Problem. Bereits vor 20 Jahren begannen Ingo Potrykus (damals ETH Zürich) und Peter Beyer (damals Albert- Ludwigs-Universität Freiburg) mit der Entwicklung von sog. Goldenem Reis: Durch eine gentechnische Veränderung wird letztlich β-Karotin im Endosperm von Reiskörnern synthetisiert. Was folgte, ist keine Erfolgsgeschichte, sondern eine 20-jährige Kette von Debatten und Konflikten um Forschungsfinanzierung und Patentrecht, potenzielle Risiken und Nutzen gentechnisch veränderter Organsimen (GVOs) und je nach Anbauland unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen [3, 4]. Im Jahr 2010 veröffentlichte Potrykus einen desillusionierten Zwischenstand [5]. Nun wurden auf den Philippinen erstmals rund 70 t Goldener Reis geerntet. In Asien, wo nach WHO-Angaben noch jährlich rund 250 000–500 000 Kinder aufgrund von Vitamin-A-Mangel erblinden und die Hälfte davon innerhalb eines Jahres verstirbt [6], könnte sich damit nach langer Zeit doch eine Akzeptanz von GVO als Lebensmitteln durchsetzen. Auch in Bangladesch gibt es derzeit Versuchsanbau. Ein industrienahes Online-Journal postuliert bereits ein „Goldenes Zeitalter“ für den Goldenen Reis [7].
Neben Ertragssteigerung und gezielter Anreicherung von Inhaltsstoffen sind Resistenzen gegen Schädlinge und Klimafaktoren (Trockenheit, Bodenversalzung) heutige Ziele gentechnischer Pflanzenzüchtung. GVO-KritikerInnen führen neben möglichen Risiken durch die Pflanzen selbst (z. B. unbeabsichtigte Ausbreitung, Monokulturen und Resistenzentwicklung) u. a. die problematische Rechtslage (Patentschutz und Nachbauverbot bindet LandwirtInnen an Saatgutfirmen, Verlust genetischer Vielfalt, wenn großflächig nur wenige Sorten angebaut werden) und Fehlleitung von Finanzmitteln (Forschungsgelder für Gentechnik-Forschung fehlen an anderer Stelle) als Argumente an. Das mittlerweile etablierte Verfahren des „Genome Editing“ [8] hat die Debatte erneut aufleben lassen [9]. Eine Übersicht über Gentechnik in der Landwirtschaft gibt [10].

Literatur

  1. Deutsche Welthungerhilfe e. V., Concern Worldwide: Welthunger- Index. www.welthungerhilfe.de/hunger/welthunger-index  (last accessed on 14 December 2022).
  2. University of Hohenheim: 5th International Congress Hidden Hunger. https://hiddenhunger.uni-hohenheim.de/en  (last accessed on 14 December 2022).
  3. Stockstad E: After 20 years, Golden Rice nears approval. Bangladesh may become the first country to adopt transgenic rice enriched in vitamin A. Science 2019; 366(6468): 934. www.science.org/doi/10.1126/science.366.6468.934 
  4. Transparenz Gentechnik: Der Goldene Reis: Erste Ernte auf den Philippinen. www.transgen.de/forschung/428.goldener-reis-vitamin-augenerkrankungen.html  (last accessed on 14 December 2022).
  5. Potrykus I: Lessons from the ‘Humanitarian Golden Rice’ project: regulation prevents development of public good genetically engineered crop products. N Biotechnol 2010; 27(5): 466– 72. www.ask-force.org/web/Vatican-PAS-Studyweek-Elsevier-publ-20101130/Potrykus-Ingo-Lessons-Humanitarian-Golden-Rice-20101130-publ.pdf
  6. World Health Organization (WHO): Nutrition Landscape Information System (NLiS). Vitamin A deficiency. www.who.int/data/nutrition/nlis/info/vitamin-a-deficiency  (last accessed on 14 December 2022).
  7. swiss-food-ch: Finally, a golden age for golden rice. 2021. www.swiss-food.ch/en/articles/ finally-a-golden-age-for-golden-rice  (last accessed on 14 December 2022).
  8. Siebert R, Richter I, Herzig C, Birringer M: Genome Editing für die Land- und Ernährungswirtschaft. Potenziale und Risiken. Ernährungs Umschau 2018; 65(11): M639–47.
  9. Pflanzenforschung.de: Biowissenschaftler: innen fordern differenzierte Regulierung neuer Züchtungstechniken. 2022. www.pflanzenforschung.de/de/pflanzenwissen/journal/genome-editing-der-pflanzenzuechtung  (last accessed on 14 December 2022).
  10. BUND: Kommerzieller Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen weltweit. www.bund.net/themen/landwirtschaft/gentechnik/kommerzieller-anbau-und-freisetzung/weltweit/  (last accessed on 14 December 2022).


Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 1/2023 auf den Seiten M11 bis M12.

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