Biografische Studie: Mit dem eigenen Dicksein leben und umgehen

Dick zu sein ist in einer Welt, in der Fitness und – schlanke – Schönheit zum Ideal geworden sind, mit einem negativen Stigma belegt. Menschen mit hohem Körpergewicht werden Disziplinlosigkeit, geringe Belastbarkeit und anderweitige persönliche Schwächen unterstellt. Sie werden gemobbt und ausgegrenzt bis dahin, dass ihnen vorgeworfen wird, hohe Gesundheitskosten zu verursachen.

„Während sehr viel über das ‚Problem Übergewicht‘ und erforderliche Präventionsmaßnahmen öffentlich gesprochen wird, gibt es bislang wenig empirisches Wissen dazu, wie es eigentlich Menschen ergeht, die nicht den propagierten Gewichtsnormen entsprechen“, stellt Lotte Rose, Professorin für Pädagogik der Kinder- und Jugendarbeit, den Hintergrund der gerade abgeschlossenen Studie „Geschlechterordnungen der Diskriminierung dicker Körper“ dar.

Biografische Interviews zur eigenen Lebensgeschichte
Von 2017 bis 2019 wurden von Studierenden an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) biografische Interviews mit Frauen und Männern mit hohem Körpergewicht geführt und in Berichten zu jedem Interview zusammengefasst. Zentrale Fragestellungen lauteten: Wie bewältigen Menschen mit hohem Körpergewicht ihr Leben mit einem Stigma? Wie sprechen sie über sich selbst und ihr Leben? Welche Narrative sind dabei charakteristisch? Im besonderen Fokus stand die Frage, ob und wie sich Geschlechterunterschiede in Erzählungen hochgewichtiger Menschen über ihr Leben zeigen. Insgesamt wurden 124 Berichte untersucht, davon 92 zu Frauen und 32 zu Männern.

Bei der Vertextlichung der Interviews zu den Berichten wurde von den Studierenden selektiert, verdichtet und gewichtet, sodass ein Dokument entstand, das nicht mehr eins zu eins die Konstruktion der Interviewten abbildet, sondern das, was den Studierenden bedeutsam erschien. Die Texte ähneln damit eher dem Genre journalistischer Porträts.

Abnehmen für „ein völlig neues Leben“
Nur in einem Viertel der Berichte kam das Körpergewicht überhaupt zur Sprache. Es war allerdings auch nicht explizit als Inhalt der Interviews offengelegt. Der Erzählstimulus richtete sich vielmehr auf die Darstellung der eigenen Lebensgeschichte im Allgemeinen.

Wurde das Körpergewicht von den Interviewten angesprochen, thematisierten viele interviewte Männer und Frauen, dass am eigenen Körper aufwendig gearbeitet wird, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. Besonders dort, wo erfolgreich abgenommen wurde, nahm dieses Thema viel Raum ein. Der schlanke Körper erscheint dabei als Inbegriff eines psychosozial „leichteren“ und besseren Lebens – was aus Sicht der Wissenschaftlerinnen an die Problemdebatte zu hohem Körpergewicht andockt.

In den entsprechenden Berichten trägt das Abnehmen immer dramatische Züge eines radikalen und umfassenden Veränderungsprozesses, der den Betreffenden zudem viel abverlangt. In einem Bericht läutet das Dünnerwerden ein „völlig neues Leben“ ein, das Vorteile in unterschiedlichen Lebensbereichen mit sich bringt und so für ein glückliches Leben sorgt.

Misserfolge und harte Arbeit
So gut wie immer wird das Abnehmen von den Interviewten als selbstbestimmte Entscheidung erzählt, gleichzeitig als höchst arbeitsintensiv erlebt: Sport- und Fitnessaktivitäten, gesunde Ernährung, Diätprogramme, Formula- Diäten bis hin zu bariatrischer Chirurgie. „Entscheidend ist dabei: Es gibt kein absolutes Scheitern. Wenn das erste Diätprogramm erfolglos bleibt, wird das nächste in Angriff genommen“, so Rose. „Diese Bereitschaft spricht gegen die stereotype Zuschreibung der Faulheit und Willenlosigkeit von Dicken. Hart an sich zu arbeiten und es trotz Misserfolgen immer wieder zu versuchen, demontiert das Stigma, mit dem Menschen mit hohem Körpergewicht leben müssen.“

Frauen nehmen für Beziehungen und Familie ab
Während der Prestigegewinn durch den schlanken Körper in Berichten beider Geschlechter eine Rolle spielt, gibt es aber auch eine geschlechterspezifische Besonderheit: Gerade Frauen erzählen, durch die Gewichtsreduktion eine bessere Partnerin und Mutter geworden zu sein. Die Abnahme wird von ihnen als Verpflichtung anderen gegenüber und als Teil ihrer Fürsorge für andere, der sie nachkommen möchten, konstruiert. Ähnliche Erzählungen von Männern, die sich über eine Abnahme als bessere Väter positionieren, sind im Datenmaterial nicht auszumachen.

Geschlechterspezifische Narrative sind auch bei den Erzählungen zur Elternschaft sehr markant: In den Berichten über Frauen mit Kindern tauchen zahlreiche Probleme dieser auf: Schon um überhaupt schwanger werden zu können, ist oft eine Gewichtsreduktion nötig. Auch die Schwangerschaften selbst werden leidvoll beschrieben, wenn die Gewichtszunahme zu hoch ist und nach der Entbindung hoch bleibt. In nicht wenigen Fällen ist die Schwangerschaft aber auch erst der Start einer „Karriere der Dickleibigkeit“. Typisch sind zudem die Erzählungen zu den Beschwernissen guter Mutterschaft durch das hohe Gewicht. Aus Scham wird z. B. darauf verzichtet, sich mit den Kindern in der Öffentlichkeit zu zeigen, bspw. im Schwimmbad. Zudem gibt es Befürchtungen, aufgrund des eigenen Dickseins das eigene Kind falsch zu ernähren und zu erziehen, und dass das eigene Kind wegen des Gewichts der Mutter stigmatisiert wird.

In einer Folgestudie soll im Rahmen eines Promotionsprojekts die Lebenssituation von Eltern mit hohem Körpergewicht genauer untersucht werden.

Quelle: Frankfurt University of Applied Sciences, Pressemeldung vom 13.01.2020

© Zinkevych/iStock/Getty Images Plus
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Fatismus
In Anlehnung an die Begriffe des Rassismus oder Sexismus in Gesellschaften hat sich der Begriff Fatismus (von engl. fat) entwickelt. Damit ist gemeint, dass Menschen mit hohem Körpergewicht soziale Anerkennung verweigert und gesellschaftliche Teilhabe erschwert werden.



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 3/2020 auf Seite M134.

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