26. Heidelberger Ernährungsforum: Ernährungsumgebungen – Essen, Ernährung, Praktiken

(umk) Auch in diesem Jahr fand das Heidelberger Ernährungsforum (HEF) online statt. Rund 430 TeilnehmerInnen nutzten am 25. und 26. März eineinhalb Tage, die dicht gepackt waren mit Vorträgen, Diskussionen und der Möglichkeit, in einer Online-Flaniermeile Ernährungsumgebungen in Form von Kunstobjekten, Abschlussarbeiten zum Thema Außer-Haus-Verpflegung und Beispielen erfolgreicher Hochschulgastronomie kennenzulernen.

Den thematischen Rahmen des HEF bildeten die verschiedenen Aspekte, Interessenlagen und Kontroversen um gesundheitsförderliche, präventive, nachhaltige und faire Ernährungsumgebungen – von der privaten Küche bis zur Gemeinschaftsgastronomie, von Convenience bzw. hochverarbeiteten Lebensmitteln bis hin zu kleinparzelligen Selbstversorger-Projekten.

„Ernährung muss ein Aufreger-Thema werden."
Prof. Gunther Hirschfelder auf dem 26. Heidelberger Ernährungsforum

Zum Einstieg stellte Prof. Gunther Hirschfelder, Universität Regensburg, digitale, imaginäre und reale Ernährungsräume vor. Er machte deutlich, wie schwer klare Zuschreibungen von „fair“ oder „nachhaltig“ angesichts der oft unüberschaubaren Zusammenhänge und starker Segmentierung der Gesellschaft sind. Sein Statement: Stärkere regulative Rahmenbedingungen sind nötig, um faire Ernährungsumgebungen zu schaffen. Und „Ernährung muss ein Aufreger-Thema werden“, damit es in der Fülle von medialen Hypes nicht untergeht und im gesellschaftlich- politischen Diskurs bleibt.
Prof. Ulrike Arens-Azevêdo von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) beschrieb Nachhaltigkeitskriterien zur Erreichung der 17 Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen. Sie unterstrich die besondere Bedeutung der Gemeinschaftsverpflegung – allen voran im Bereich Kita- und Schulverpflegung – für faire Ernährungsumgebungen und kündigte eine Stellungnahme1 der DGE zur Planetary Health Diet an.
Prof. Anja Bosy-Westphal, Universität Kiel, definierte hochverarbeitete Lebensmittel und führte aus, warum diese nicht gesund sind. Eine hohe Energiedichte zusammen mit einer hohen (möglichen) Essgeschwindigkeit, aber auch fehlende positive Eigenschaften der natürlichen Lebensmittelmatrix – selbst bei annährend gleichem Nährwertprofil – sind wichtige Faktoren. Eine Herausforderung für Studien zum Thema ist, dass in vielen Lebensmittel-Datenbanken keine Angaben zum Verarbeitungsgrad (Beispiele: NOVA- und Siga-Score), enthalten sind.
Dr. Eleonore Heil, Universität Gießen, schilderte in ihrem Vortrag Transformation durch gemeinschaftliches Handeln Ansätze und Hemmnisse bei der Umstellung auf einen nachhaltigeren Lebensstil. So kann es zum Konflikt zwischen einer längeren Zubereitungszeit der Mahlzeiten und dem oft eng getakteten Tagesplan kommen. Ihr Beispiel der Veränderung von Hausgärten in den letzten Jahrzehnten (früher Nutzgartenanteil, dann pflegeleichte, heute leider oft Kies„gärten“) mit allen Auswirkungen für Selbstversorgungsgrad, Mikroklima und Biodiversitätsverlust, machte deutlich, was auch zum Begriff Ernährungsumgebungen gehört.
Prof. Jana Rückert-John, Hochschule Fulda, näherte sich dem Thema Ernährungsumgebungen aus soziologischer Perspektive. Sie schilderte den Wandel des Ernährungsalltags und das damit zusammenhängende komplexe Netz von Ernährungspraktiken. Zugleich kritisierte sie an der aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte, dass Ernährung meist auf die Sicherung physischer Grundbedürfnisse reduziert werde. Die aktuellen Krisen (Kriege, Corona) stellen, wie Rückert-John betonte, neben Bedrohungen auch „Gelegenheitsfenster“ zum grundsätzlichen Wandel von Routinen und Prioritäten dar.
Am Beispiel der unterschiedlichen Küchengestaltung machte Dr. Julia von Mende, Bauhaus-Universität Weimar deutlich, Was die Verräumlichung von Essenspraktiken über Gesellschaft erzählt. Anhand von Raumskizzen und Statements aus Interviews wurde klar: Die Küche kann je nach Selbstbild und Lebensentwurf der Befragten ebenso rein repräsentativer, zur Nahrungszubereitung kaum mehr genutzter Raum sein wie zentraler Ort der spontanen oder ritualisierten Begegnung.
Während im vorangehenden Vortrag noch der Tausende Euro teure Kaffeevollautomat im Zentrum der Betrachtung stand, stellte Dr. Hanna Augustin, Stadt Bremen, die Herausforderungen vor, in denen Menschen in benachteiligenden Ernährungsumgebungen bestehen müssen. Ob eine gesunderhaltende Ernährung mit den Hartz-IV-Regelsätzen möglich ist, wird leicht zur akademischen Debatte, die Menschen in prekären Lebenssituationen leicht zu Unrecht stigmatisiert (können nicht rechnen, kochen, haushalten; kaufen zu teure Produkte).
Prof. Ines Heindel ging auf das Zusammenspiel von Essen, Kommunikation und sozialen Räumen und auf blinde Flecken in der (Ernährungs-) Bildungspolitik ein. Sie erläuterte ein Stufenmodell, nach dem faire Ernährungsumgebungen in geschützten sozialen Räumen entstehen können.

Am zweiten Tag stellte Prof. Melanie Speck, Hochschule Osnabrück, die Frage Wie die Transformation von Ernährungs- und Dienstleistungssystemen gelingen kann. Deutlich wurde: Eine Umstellung der individuellen Ernährungsweise (= Konsum) reicht nicht aus, zusätzlich muss eine Veränderung der Lebensmittel-Wertschöpfungskette (= Produktionsweisen) erfolgen. Mit NAHGAST, KEEKS und Bite stellte sie Studien vor, deren Ergebnisse teilweise auch in der ERNÄHRUNGS UMSCHAU erschienen sind. Sie sprach sich klar für staatliche Vorgaben aus: Nicht-Handeln sei keine Option, sondern verschärfe die Problematik.
Prof. Christine Hagspihl, HS Fulda, griff das Thema Gemeinschaftsgastronomie wieder auf, denn die hier tätigen Fachkräfte gestalten die Ernährungsumgebung2. Sie gab einen Überblick über die in diesem Feld tätigen Berufsgruppen und stellte die aktuelle Neuordnung der Ausbildungsberufe und -Schwerpunkte (z. B. Zusatzqualifikationen vegetarische/ vegane Küche) vor.
Wer oder was bestimmt die Ernährung von morgen? lautete die Frage der EssZuk-Studie. Prof. Christine Brombach, Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften, schilderte anhand von Studienergebnisse die verschiedenen Sichtweisen, Priorisierungen und Essumgebungen im D-A-CH-Raum. Ihr ernüchterndes Fazit: Ansätze der Ernährungsinformation sind teilweise gescheitert. Sie machte sich für ein einheitliches Schulfach „Ernährung und Gesundheit“ stark. Von der Politik forderte sie klare Rahmenbedingungen, die neben den KonsumentInnen den Handel einbeziehen.
Im Abschlussvortrag vor der Diskussion im Plenum ging Prof.in Angela Häußler, Pädagogische Hochschule Heidelberg, nochmals auf Ernährungssituationen aus Alltagsperspektive ein. Die Aussage „… und jetzt noch schnell ums Essen kümmern“ beschreibt den oft minutiös durchgetakteten Lebensalltag und zugleich den Stellenwert, den Essen und die Zubereitung von Mahlzeiten darin eingeräumt bekommen. Sie arbeitete ein Kernproblem des marktökonomischen Wirtschaftssystems heraus, dass im Vergleich zum produzierenden Gewerbe den Bereich Care-Arbeit, die ganz wesentlich auch Ernährungsumgebungen gestaltet, ökonomisch und gesellschaftlich unterbewertet.

Fazit
Der Reiz der diesjährigen Veranstaltung lag weniger in spektakulären neuen Forschungshypothesen oder Untersuchungsmethoden, sondern vielmehr darin, dass in den Einzelvorträgen in engeren und weiteren Kreisen und aus der Sicht ganz verschiedener Standpunkte und AkteurInnen immer wieder der Blick auf die Rahmenbedingungen und Abhängigkeiten von Essumgebungen geworfen wurde. Die ZuhörerInnen lernten eine andere Sicht auf in der aktuellen Debatte verwendete Begriffe wie Fairness, Partizipation, Regionalität, Nachhaltigkeit kennen, was auch an der regen Chat-Beteiligung in den Diskussionsrunden deutlich wurde.
Es ist geplant, die Vorträge und Diskussionen der Veranstaltung in einem Tagungsband zusammenzustellen.

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1 Lesen Sie die das Positionspapier ab S. M252 in diesem Heft
2 Lesen Sie hierzu auch „Gemeinschaftsverpflegung in Deutschland – Stellenwert und Strukturen“ in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 8/2021



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 5/2022 auf Seite M238-M239.

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