EU- Ratsbeschluss: Freier Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen

(umk) Am 23. Mai hat der Rat der Europäischen Union Schlussfolgerungen zu „Wegen des hochwertigen, transparenten, offenen, vertrauenswürdigen und fairen wissenschaftlichen Publizierens“ angenommen [1, 2]. Es geht darum, einerseits die Qualität und Seriosität wissenschaftlicher Forschung sicherzustellen und zugleich den möglichst freien Zugang zu Ergebnissen öffentlich geförderter Forschung zu ermöglichen.

Hintergrund
Wissenschaft lebt vom Austausch von Forschungsergebnissen. Ein freier Zugang zu aktuellen wissenschaftlichen Publikationen ist jedoch nicht selbstverständlich: Für die Redaktion, die Steuerung des Peer-Review(PR)-Prozesses und das Veröffentlichen in gedruckter und/oder elektronischer Form entstehen Kosten. Verlage finanzieren sich daher entweder über Abonnements (so wie die ERNÄHRUNGS UMSCHAU) und Anzeigen, über sog. Paywalls (also Gebühren für Volltextzugriffe) über Publikationsgebühren, die von den Autor*innen zu tragen sind, oder über Kombinationen dieser Modelle.

Wettstreit der Modelle
Auch „Open access“, also der freie Zugriff auf Artikel, muss letztlich finanziert werden. Meist geschieht dies ebenfalls über Publikationsgebühren, die von den Autorinnen und Autoren oder über entsprechende Budgets der Forschungsinstitute bestritten werden. Neben der Kostenproblematik kommt das für die Qualitätskontrolle wissenschaftlicher Publikationen wichtige PR-Verfahren immer mehr an seine Grenzen: Eine wachsende Zahl von Publikationen (Stichwort „Publikationsdruck“) führt immer häufiger auch zu Absagen potenzieller Gutachter*innen (Stichwort „Begutachtungsmüdigkeit“); im Extremfall untergraben sog. „Raubtierjournale“ mit fragwürdigen PR-Verfahren die Glaubwürdigkeit von Publikationen [3].
Die Folge ist: „… bei Weitem nicht jeder Artikel [ist] für andere Forschende oder andere interessierte Leserinnen und Leser verfügbar. Die Kosten für Bezahlschranken beim Zugang zu wissenschaftlichen Artikeln und zum wissenschaftlichen Publizieren werden untragbar, und die Publikationskanäle für Forschende befinden sich häufig in den Händen privater Unternehmen, die nicht selten die Kontrolle über die Rechte des geistigen Eigentums an den Artikeln übernehmen“ [1].

In seinen Schlussfolgerungen fordert der Rat die Kommission und die Mitgliedsstaaten auf, Maßnahmen in Bezug auf ein gemeinnütziges Open-Access-Modell des wissenschaftlichen Publizierens in mehreren Formaten ohne Kosten für Autorinnen und Autoren oder Leserinnen und Leser zu unterstützen [1]. Die Mitgliedsstaaten sollen die Pilot-Plattform Open Research Europe (ORE) unterstützen, um einen umfassenden Open-Access-Dienst für wissenschaftliches Publizieren zu schaffen. ORE [4] verspricht sehr schnelle Online-Veröffentlichungen mit nachgeschaltetem Open Peer Review (siehe unten). Auch die Honorierung von (bislang ehrenamtlichen) Begutachtungen wird vom Rat vorgeschlagen.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat unmittelbar mit einer Stellungnahme [5] auf die Vorschläge reagiert und begrüßt diese prinzipiell, sieht einige Punkte jedoch auch kritisch. So bestehe die Gefahr, dass die Verfügbarkeit von Mitteln (Anm. d. Red: also die Kosten für den Bezug von Zeitschriften oder Publikationsgebühren für Open-Access-Zeitschriften) über die Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs entscheidet. Von daher sollten Alternativen zum klassischen Peer-Review-Prinzip nicht ausgeschlossen werden. Beispiele sind:

  • Post Publication Peer Review (PPPR): Artikel werden nach formaler redaktioneller Prüfung publiziert, erst daran schließt sich ein – offen einsehbarer, zeitlich offener – fachlicher Diskurs zur Verbesserung der Veröffentlichung an.
    Nachteil: Der Prozess kann langwierig sein; Zitate der Arbeit können sich auf unterschiedliche Bearbeitungsstände beziehen.
  • Open Peer Review (OPR): im Gegensatz zum klassischen PR werden die Artikel vor Publikation in einem für viele/ offen zugänglichen Prozess (festes Zeitfenster) diskutiert. Ähnliche Verfahren werden z. B. im Vorfeld der Veröffentlichungen von Leitlinien verwendet. Ein aktuelles Beispiel ist der Konsultationsprozess für die Überarbeitung und Weiterentwicklung der lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen der DGE ( www.dge.de/wissenschaft/fbdg/#c1943) – die Kommentierungsfrist endete gerade und die Kommentare werfen nun gesichtet und ausgewertet.
    Nachteil: Die Sichtung und Berücksichtigung der zahlreichen Kommentare ist aufwändig und muss moderiert werden.

Auch seien die historisch gewachsenen, teilweise unterschiedlichen Fachgewohnheiten in Bezug auf Publikationsformate zu berücksichtigen.

Anmerkung
Freibier für alle?

Dass sich der Rat der Europäischen Union mit dem Thema befasst und die unmittelbare Stellungnahme der DFG auf die verabschiedeten Schlussfolgerungen zeigen die Brisanz des Themas: Wissenschaftliches Publizieren muss einerseits Kriterien der Transparenz und Qualitätssicherung erfüllen, andererseits muss der hierfür nötige Workflow auch finanziert werden. Wenn dies politisch gewünscht ist, müssen entsprechende Mittel, z. B. Open-Access-Budgets, bereitgestellt werden. Denn redaktionelle Leistungen (auch die Vorbegutachtung bei Open Peer Review ist Arbeit), Grafik, Layout, Content-Management, IT-Infrastruktur usw. müssen refinanziert werden – ob in Verlagen oder öffentlich betriebenen Plattformen. Nicht zuletzt sollten bei allen Modellen mögliche Einflussnahmen von politischer Seite ausgeschlossen sein. Die zurückliegende Debatte um den Nutri-Score ist ein Beispiel, wie mit dem Timing von Publikationen auch Politik gemacht wurde, sodass staatlich betriebene Plattformen nicht unbedingt Garant für Neutralität sind – ebenso wie Großverlage in der Hand von Investoren. Und auch „an Forschungsorganisationen angesiedelte Open-Access-Infrastrukturen“ (so ein Vorschlag des Rats und der DFG) müssen kostendeckend arbeiten, für Weiterentwicklungen sogar Gewinn erzielen (pardon: Anträge auf Fördermittel schreiben). Die Finanzierungsfrage wird damit nur verschoben, aber nicht gelöst, und birgt eigene Gefahren hinsichtlich Transparenz, Qualitätssicherung und Chancengleichheit auf Publikation bzw. Zugänglichkeit. Sollen etwa die Fraunhofer- und Leibniz-Institute, die Einrichtungen der Max Rubner-Institute, das DIfE usw. jeweils (nur) ihre eigenen Ergebnisse publizieren und am besten gleich selbst reviewen? Aber diese Einschätzung ist vielleicht meinem Interessenkonflikt als Redaktionsleiter einer seit 70 Jahren bestehenden Fachzeitschrift geschuldet. Dass der Rat der Europäischen Union auch Schulungen für Forschende in Sachen Rechte des geistigen Eigentums vorschlägt, ist hingegen zu begrüßen. Viele Autor*innen verlieren bei den zahlreichen Fallstricken von Urheber- und Nutzungsrechten, Belegexemplaren, dem „Kleingedruckten“ von ResearchGate & Co. den Überblick [6] bzw. haben nicht die Zeit, sich damit zu befassen.

Literatur

  1. Rat der Europäischen Union: Rat fordert transparenten, fairen und offenen Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen. www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2023/05/23/council-calls-for-transparent-equitable-and-open-access-to-scholarly-publications/  (last accessed on 24 May 2023).
  2. Rat der Europäischen Union: Wege des hochwertigen, transparenten, offenen, vertrauenswürdigen und fairen wissenschaftlichen Publizierens. 23.05.2023. https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-9616-2023-INIT/de/pdf  (last accessed on 24 May 2023).
  3. Technische Universität Münschen: Predatory Journals & Conferences. Information der Bibliothek der Technischen Universität München. www.ub.tum.de/en/predatory-journals  (last accessed on 24 May 2023).
  4. Open Research: Rapid & Transparent Publishing. https://open-research-europe.ec.europa.eu/  (last accessed on 24 May 2023).
  5. Deutsche Forschungsgemeinschaft: Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zu EU-Ratsschlussfolgerungen zum „High-quality, transparent, open, trustworthy and equitable scholarly publishing“. www.dfg.de/download/pdf/foerderung/programme/lis/stellungnahme_wiss_publizieren_de.pdf  (last accessed on 24 May 2023).
  6. Börsenblatt: Researchgate unterliegt im Rechtsstreit mit Elsevier. 08.02.2022. www.boersenblatt.net/news/researchgate-unterliegt-im-rechtsstreit-mit-elsevier-226227  (last accessed on 24 May 2023).


Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 7/2023 auf Seite M407.

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