Ernährungsmedizin: Kohlenhydratmolekül N-Acetylglucosamin zur Therapie bei schwerer Multipler Sklerose?

Forschende des Berliner ECRC sind gemeinsam mit einem Team aus den USA und Kanada auf ein Kohlenhydratmolekül gestoßen, dessen Konzentration im Blut von PatientInnen mit besonders schwerer Multipler Sklerose (MS) verringert ist. Diese Entdeckung könnte eine neue Therapieoption eröffnen.

MS äußert sich bei jedem Menschen etwas anders. Bei PatientInnen, die an der chronischen fortschreitenden Verlaufsform erkrankt sind, verschlechtert sich der Zustand kontinuierlich. Diese Form der MS wird auch als progredient bezeichnet. Häufiger ist dagegen die schubförmige Variante, bei der die PatientInnen oft monate- oder gar jahrelang beschwerdefrei sind.

Heutige Therapieansätze gehen davon aus, dass ein fehlgesteuertes Immunsystem irrtümlich die Myelinschicht der Nervenzellen angreift. Dabei handelt es sich um eine isolierende Schutzhülle, die die langen Ausläufer der Zellen, die Axone, umgibt. „Bei der progredienten MS kommt es zu vermehrten neurodegenerativen Prozessen, wodurch immer mehr Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark absterben, erklärt Dr. Alexander Brandt, Erstautor der veröffentlichten Studie [1]. „Die genauen Ursachen für diese Variante der Erkrankung sind noch immer unbekannt.“ Wie das Wissenschaftsteam berichtet, könnte der Einfachzucker N-Acetylglucosamin, kurz GlcNAc, eine wichtige Rolle bei der Entstehung der progredienten MS spielen. Im Organismus ist GlcNAc gemeinsam mit anderen Kohlenhydratmolekülen kettenartig an Proteine auf der Zelloberfläche gebunden. Dieser als Glykosylierung bekannte Mechanismus kontrolliert über eine Verzweigung dieser Kohlenhydratketten diverse Zellfunktionen.

Für die Studie wurden zunächst 120 ProbandInnen untersucht. Wie die Ergebnisse zeigen, liegen bei dieser besonders schweren Form der Erkrankung deutlich geringere Konzentrationen an GlcNAc im Blutserum vor als bei gesunden Menschen oder PatientInnen mit schubförmiger MS. Eine weitere Untersuchung an 180 PatientInnen mit schubförmiger oder progredienter MS zeigte, dass niedrige Serumspiegel von GlcNAc mit einem progressiven Krankheitsverlauf, klinischer Behinderung und Neurodegeneration assoziiert sind.

Bereits im Herbst 2020 hatten Brandt und weitere WissenschaftlerInnen berichtet, dass sie säugenden Mäusen GlcNAc verabreicht hatten. Die Tiere gaben das Kohlenhydrat, das auch in der menschlichen Muttermilch enthalten ist, an ihre Nachkommen weiter. Dies stimulierte die primäre Myelinisierung der Nervenzellausläufer bei den Jungtieren. Im Mausmodell konnten sie zudem beobachten, dass GlcNAc die Vorläuferzellen des Myelins aktiviert und auf diese Weise sowohl die primäre Myelinisierung als auch die Reparatur von beschädigtem Myelin fördert.

Das Forschungsteam hofft daher, dass sich GlcNAc nicht nur als Biomarker für progrediente MS eignet, sondern dass sie mit GlcNAc und der verbundenen Glykosylierung die Myelinreparatur fördern und so die Neurodegeneration verringern können. In einer ersten, gerade abgeschlossenen, aber noch unveröffentlichten Phase-I-Studie mit rund 30 ProbandInnen untersuchten die WissenschaftlerInnen, ob eine Einnahme von GlcNAc in bestimmten Dosierungen sicher ist. Sollte sich dieses bestätigen, werden sie in weiteren Studien mögliche Effekte als MS-Therapie untersuchen.

Literatur
1. Brandt A et al.: Association of a marker of N-Acetylglucosamine with progressive Multiple Sclerosis and neurodegeneration. JAMA Neurology 2021; DOI:10.1001/jamaneurol.2021.1116.

Quelle: Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft, Pressemeldung vom 12.05.2021



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 8/2021 auf Seite M444.

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