Bericht vom Update Ernährungsmedizin 2019: Potenzial der Ernährungsmedizin in Deutschland nicht ausgeschöpft

(scs) Jeder zweite vorzeitige, kardiovaskulär bedingte Todesfall in Deutschland wird Studien zufolge durch eine unausgewogene Ernährung verursacht. Dieser außerordentlich hohen Zahl steht die konsequente Nicht-Beachtung der Effekte von Ernährungstherapie durch die deutsche Ärzteschaft und Gesundheitspolitik entgegen, so eine (ernüchternde) von mehreren Botschaften der Vorträge und Diskussionen beim diesjährigen Update Ernährungsmedizin in München. Auch bei ihrem 10. Jubiläum vom 18. bis 19. Oktober im Klinikum rechts der Isar war die Veranstaltung wieder ausgebucht, das Programm gewohnt hochklassig. Mit den Schwerpunktthemen Mangelernährung, „Bauchhirn“ und Mikrobiom, Alter und ernährungspolitische Maßnahmen griffen die VeranstalterInnen von ZIEL-TUM München unter der Leitung von Prof. Hans Hauner eine Reihe aktueller Themen auf, zwischen denen es immer wieder Verbindungen und zu denen es einige neue und spannende Daten und Erkenntnisse zu erfahren gab. Der folgende Bericht bietet nur eine kurze Auswahl (=> ausführlichere Version auf www.ernaehrungs-umschau.de in Online PLUS).

Mangelernährung in Kliniken: Ernährungstherapie hilft

Überzeugende Zahlen präsentierte Prof. Philipp Schütz von der Medizinischen Universitätsklinik Basel aus der eigenen EFFORT-Studie zur Bekämpfung von Mangelernährung in der Klinik. Im Rahmen der Studie wurden verschiedene Interventionsmaßnahmen eingeführt, die Ergebnisse sind eindrücklich: Die Mehrzahl der behandelten PatientInnen erreichte das Ernährungsziel mit höherer Energie- und Proteinaufnahme ohne Einsatz von enteraler oder parenteraler Ernährung. Die number needed to treat (Zahl der PatientInnen, die behandelt werden müssen, um bei einem/r PatientIn den gewünschten Endpunkt zu erreichen) betrug 25 für die Vermeidung schwerer Komplikationen, d. h. es mussten 25 PatientInnen behandelt werden, um bei einer Person eine schwere Komplikation zu verhindern. Durch ernährungstherapeutische Behandlung von 37 PatientInnen wurde ein vorzeitiger Todesfall verhindert. Diese Zahlen seien laut einer Anmerkung aus dem Plenum nach dem Vortrag vergleichbar denen der Wirkung eines Stents bei Verengung der Herzkranzgefäße und damit höchst eindeutig. Die Kostenanalyse ergab darüber hinaus, dass die durch das Programm verursachten Kosten durch die Einsparnisse im Rahmen des verbesserten Gesundheitszustands der PatientInnen wieder herausgeholt wurden.

Mit dem seit letztem Jahr eingeführten OPS-Schlüssel1 8-98j „ernährungsmedizinische Komplexbehandlung“ lässt sich Ernährungstherapie in Krankenhäusern nun auch erstmals kostendeckend abrechnen. Wie man ein strukturiertes Ernährungsmanagement in einer Klinik damit auf eine solide finanzielle Basis stellen kann, zeigte Dr. Michael Adolph aus dem Universitätsklinikum Tübingen in seinem Referat: Voraussetzung für die Abrechnungsfähigkeit ernährungsmedizinischer Komplexbehandlung ist der Aufbau eines strukturierten Ernährungsmanagements inkl. eines multidisziplinären Ernährungsteams unter Leitung von mindestens einem/ einer ErnährungsmedizinerIn (inkl. Vertretungsregelung für Urlaub und Krankheitszeiten!). Anhand des Ernährungsmanagements in Tübingen zeigte Dr. Adolph, wie die Umsetzung funktionieren kann: mit dem Aufbau einer Stabsstelle Ernährungsmanagement, regulärem Screening, erweiterter Diagnostik im Risikofall und einer persönlichen Betreuung der betroffenen PatientInnen durch das Ernährungsteam, welches eng mit dem Ärzteteam zusammenarbeitet.

Darmnervensystem: autonom arbeitendes, lernendes Bauch-Gehirn
Darmhirn und Mikrobiom: Zwei Themen, zu denen Prof. Schemann und Prof. Bischoff neueste Erkenntnisse vermittelten. © wildpixel/iStock/GettyImagesPlus
Darmhirn und Mikrobiom: Zwei Themen, zu denen Prof. Schemann und Prof. Bischoff neueste Erkenntnisse vermittelten. © wildpixel/iStock/GettyImagesPlus

Das Nervensystem des Darms – enterisches Nervensystem (ENS) oder auch Bauchhirn (little brain of the gut) genannt – arbeitet autonom. D. h. es wird als einziges unserer Organe nicht nur durch das zentrale Nervensystem (ZNS) gesteuert, dies wurde von Prof. Michael Schemann von der Technischen Universität München anschaulich gezeigt. 200–500 Mio. Nervenzellen enthält das menschliche ENS und regelt alle vitalen Darmfunktionen. Dabei ist es einer Vielzahl von Impulsen aus Epithel-, Muskel- und Fettzellen, aber auch aus dem Immunsystem und Mediatoren im Blut ausgesetzt und vermittelt zwischen diesen Reizen und dem ZNS. Aber damit nicht genug: Experimente zeigen, dass das ENS auch lernfähig ist. Es lernt, ganz wie das Gehirn, sowohl „implizit“, d. h. durch Gewöhnung, Sensitivierung und Bahnung, als auch assoziativ, also aktiv durch „Merken“ und Konditionierung. Problematisch ist dabei, dass es offensichtlich auch „Falsches“ lernen und beibehalten bzw. dass es auch wieder „vergessen“ kann. Dieser Mechanismus wird heute als Ursache z. B. des postinfektiösen Reizdarmsyndroms gesehen.

Mikrobiom: Update zur klinischen Relevanz

Zum zweiten, hoch aktuellen und viel beforschten gastroenterologischen Thema referierte Prof. Stephan Bischoff, Universität Hohenheim, mit einem ebenso spannenden Update zum Mikrobiom. Warum die Darmbakterien für uns so interessant sind, erklärte er wie folgt: Die Bakterien leben so eng mit uns zusammen, dass man sie als internen Teil unseres Organismus sehen müsse. Dadurch und durch ihren immens größeren und sich schneller wandelnden Genpool beeinflussen sie viele Parameter und Stoffwechselvorgänge – im Darm und darüber hinaus. Schlüsselfunktionen des Mikrobioms (MB) liegen daher nicht nur in der Unterstützung der Verdauung, sondern u. a. auch in der Immunabwehr und der Kommunikation zwischen ZNS und enterischem Nervensystem – wie genau, wird noch lange Gegenstand der Forschung bleiben. Nachgewiesen ist, dass die Ernährungsform Einfluss auf die vorhandenen Bakterienstämme nimmt: Die westliche Ernährungsform bspw. erzeugt eine andere Mikrobiota als andere Nahrungsmuster (mehr Firmicutes, weniger Bacteroidetes). So weit, dass individuelle Analysen des MB aussagekräftig für eine Therapie mit Darmbakterienstämmen wären, ist die Forschung Bischoff zufolge allerdings noch nicht, auch wenn Anbieter individueller MB-Analyse und -therapie zurzeit auf den Markt drängen. Die wichtigste Maßnahme für eine gesundheitsförderliche Zusammensetzung des MB sei ein Nahrungsmuster mit wenig Zucker und vielen von Darmbakterien verwertbaren Ballaststoffen.

Cholesterin: altes, neues Thema?

Wie gut kann Ernährungstherapie den Cholesterinwert im Blut senken? – die Antwort (sehr gut!) auf diese für die ernährungsmedizinische Praxis immer noch relevante Frage gab Prof. Stefan Lorkowski von der Universität Jena. Entscheidend für die Höhe des (für Herzerkrankungen einzig relevanten) LDL-Werts ist ihm zufolge der Lebensstil insgesamt: Lorkowski zeigte, dass in Deutschland der LDL-Wert von der Kindheit zum Erwachsenenalter um das 1,5-fache steigt, was auf eine lebensstilbedingte Veränderung hinweise. Eine eigene Interventionsstudie (MoKaRi-Studie) mit ballaststoff- (40–50 g/ Tag) und n-3-fettsäurereicher (500 mg DHA/EPA/Tag) Kost konnte den LDL-Wert der Interventionsgruppe im Mittel um 15 % (max. 30 %) senken. Lorkowski postuliert, dass jeder Mensch einen genetisch bedingten, unteren LDL-Wert hat, auf den lebensstilbedingt „aufgeladen“ wird.

Nach jahrelanger Entwicklung: LEKuP wird „Rationalisierungsschema“ ersetzen
Große Aufmerksamkeit für die Vorträge des ausgebuchten Update Ernährungsmedizin. © EKFZ, TUM
Große Aufmerksamkeit für die Vorträge des ausgebuchten Update Ernährungsmedizin. © EKFZ, TUM

Mit einer guten und lang erwarteten Nachricht wartete Prof. Hauner am 2. Seminartag selbst auf: Der neue „Leitfaden Ernährungstherapie in Klinik und Praxis“ (LEKuP) wird Ende des Jahres veröffentlicht und online bei den beteiligten Fachgesellschaften (darunter DGEM und DGE) frei zugänglich sein. LEKuP definiert nach aktuellsten Erkenntnissen eine gesundheitsfördernde Ernährung bei Gesunden sowie ernährungstherapeutische Kost bei allen ernährungsrelevanten Krankheitsbildern. Zielgruppen für die Definition ernährungstherapeutischer Maßnahmen in LEKuP sind Ernährungsfachkräfte, ErnährungsmedizinerInnen sowie Personen oder Institutionen, die für die Sicherstellung adäquater Ernährungstherapie verantwortlich sind. Die Ernährungs Umschau wird nach Veröffentlichung von LEKuP weiter berichten.

Fazit

Ernährungstherapie hilft – nicht nur bei Mangelernährung. Deutschland aber ist ein „Entwicklungsland“ die Verordnung von Ernährungstherapie betreffend, so betonte Hauner auch dieses Jahr wieder. Es gilt, die Aufmerksamkeit für ernährungsmedizinische Erfolge politisch und gesellschaftlich, zuvorderst aber in der Ärzteschaft zu stärken, u. a. auch, um endlich Inhalte der Ernährungslehre auch im Medizinstudium verpflichtend einzuführen. Hierzu ist das Update Ernährungsmedizin, bei dem sich Ärzte/Ärztinnen und ErnährungsmedizinerInnen mit ErnährungstherapeutInnen treffen, sich mit aktuellen Informationen versorgen und sich (noch mehr) austauschen können, eine überaus geeignete Veranstaltung. Es gilt, die Pressearbeit zu intensivieren, damit auch die überregionale und Fachpresse verstärkt auf die interessanten Inhalte der jährlichen Veranstaltung aufmerksam wird und diese in die Medien trägt.

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1 OPS = Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS), amtliche Klassifikation zum Verschlüsseln von Operationen, Prozeduren und allgemein medizinischen Maßnahmen in Krankenhäusern



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 12/2019 auf den Seiten M694-M695.

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