Heidelberger Ernährungsforum: Die ersten 1000 Tage. Frühstart in eine gesunde Ernährung – Perspektiven und Positionen

(ck) Mit Blick auf Primärprävention in der frühen Kindheit wurde vom 14.–15. November 2024 beim 28. Heidelberger Ernährungsforum ein Bogen gespannt von präkonzeptioneller und fetaler Programmierung über aktuelle Informationen zur (früh-)kindlichen Ernährung, Risiken und klinischen Realität von Fehlernährung, Prägung des Ess- und Ernährungsverhaltens, familiärer und frühkindlicher Gesundheitsförderung bis hin zur sensorischen Wahrnehmung im Kleinkindalter.

Das frühe und wiederholte Anbieten von gesunden und vielfältigen Speisen ist wichtig für die Geschmacksprägung und Akzeptanz des Essens. © gpointstudio/iStock/Getty Images Plus

PD Dr. Ute Alexy, Universität Bonn, startete in den ersten Tag mit dem Thema „Aktuelle Fragen der (früh-)kindlichen Ernährung – Was essen Kinder heute?“. Es wird mehr voll gestillt als früher, aber auch kürzer. In Deutschlang gibt es im Gegensatz zu anderen Ländern eine festgelegte Reihenfolge der Einführung von Lebensmittelgruppen mit der Beikost. Da der Zuckergehalt in kommerzieller Beikost nicht gesetzlich geregelt ist, ist der Verzehr freier Zucker im Säuglingsalter unbekannt. Die meisten Produktgruppen liegen jedoch deutlich über dem empfohlenen Grenzwert. Auch Kleinkinder zeigen eine erhöhte Zuckerzufuhr, hauptsächlich über Süßigkeiten, Säfte, Milchprodukte und zuckergesüßte Getränke. Allgemein liegt in Deutschland ein unzureichender Verzehr von Gemüse, energiefreien Getränken und Fisch vor.
Eine falsche Ernährung im Säuglings- und Kleinkindalter birgt große Risken – akut und langfristig – für die Gesundheit des Kindes. Dies stellte Prof. Dr. Rüdiger Adam, Uniklinik Mannheim, in seinem Vortrag „Perinatale und Ernährung im Säuglings- und Kleinkindalter: Potenziale, Risiken und klinische Realität“ anhand von Fallbeispielen aus seinem Klinikalltag dar und betonte die Relevanz einer interprofessionellen Zusammenarbeit von Mediziner*innen und Ernährungsfachkräften. Aber auch schon während der Schwangerschaft kann eine metabolische Programmierung, abhängig von Mikrobiom und Hormonstatus der Mutter, erfolgen, die sich in einer zellulären Antwort (erhöhte Wahrscheinlichkeit für Adipositas, Allergien etc.) des Kindes widerspiegelt.
Bei der Entwicklung von Interventionen bzw. ausgesuchten Zielverhaltensweisen muss immer auch das soziale System berücksichtigt werden, in dem ein Individuum lebt. Prof. Dr. Ulrike Gisch, Universität Gießen, thematisierte in ihrem Vortrag „Die Relevanz der Familie für die Prägung unseres Ess- und Ernährungsverhaltens“. Eltern steuern und prägen die kindlichen Essentscheidungen und Geschmacksvorlieben. Maladaptive Verhaltensweisen der Eltern können Prädiktoren für ein gestörtes kindliches Essverhalten sein. Hierbei müssen immer auch die Rahmenbedingungen berücksichtigt und bei Bedarf unterstützend eingriffen werden.
Laureen Kuhl, Universität Gießen, fokussierte in ihrem Vortrag „Plan’Eat: Potenziale und Barrieren nachhaltiger und gesünderer Ernährung in Familien mit Kleinkindern – Einblicke in Living Labs in F, S und PL“ auf ausgesuchte Zielverhaltensweisen in Kohortengruppen, sogenannten „Living Labs“. Hierbei stehen in dem EU-Projekt Plan’Eat die Förderung gesunden und nachhaltigen Ernährungsverhaltens und die Unterstützung der erforderlichen Veränderungen im europäischen Ernährungssystem im Vordergrund.
Um „Prägung der Ernährungs- und Esskulturbildung – frühzeitige Geschmacksprägung, Nudging und sensorische, nachhaltige Vielfalt“ ging es in dem Vortrag von Prof. Dr. Andrea Maier-Nöth, Hochschule Albstadt-Sigmaringen. Bereits im Uterus findet eine pränatale Geschmacksprägung statt, d. h. die Ernährung der Mutter in Schwangerschaft und Stillzeit (Übergang von Aromen des mütterlichen Essens in die Muttermilch) sind wichtige Faktoren für die Geschmacksprägung eines Kindes. Das frühe und wiederholte (ohne Druck) Anbieten von gesunden und (sensorisch) vielfältigen Speisen sei wichtig für die Geschmacksprägung und Akzeptanz des Essens.
In ihrem Vortrag „Insta-Moms und Mealprep – Familienernährung in Sozialen Medien“ ordnete Eva-Maria Endres, Berlin, mittels ausgesuchter Beispiele den Stellenwert von Ernährungsthemen in sozialen Netzwerken ein. Hierbei werden die sozialen Medien nicht unbedingt zur Vermittlung von Ernährungswissen, sondern eher als Identitätsplattform genutzt – für Fleischesser*innen, Mütter, Bäcker*innen etc. – und haben durch die Kommunikation auf Augenhöhe einen großen Einfluss auf Werte und Einstellungen der Nutzer*innen.
Der zweite Tag begann mit dem Vortrag von Prof. Dr. Raimund Geene, Berlin School of Public Health/BIGSo, zu „Familiäre Gesundheitsförderung – ein systemischer Ansatz zur Förderung des Wohlbefindens im Sinne eines gelingenden Doing Family für Eltern und Kinder“. Die Arten unserer Geschmackspräferenzen sind angepasst an unseren sozialen Status/Habitus (= eigene Lebenswelt). Hierbei spielt die Familie als sinnhaftes gemeinschaftliches Ganzes eine entscheidende Rolle und hier sollte Gesundheitsförderung ansetzen. Dafür sollten Rahmenbedingungen gemäß dem Grundsatz make the healthier choice the easier choice gegeben sein bzw. geschaffen werden.
Für 70 % der Eltern ist es schwierig, neben gesunder Ernährung auch auf klima- und umweltfreundliche Ernährung zu achten, so Anke Tempelmann, AOK-Bundesverband Berlin, in ihrem Vortrag „Gesunder Familienalltag – nachhaltige Ernährung und Ernährungskompetenzen im Fokus: Ergebnisse aus den AOK-Familienstudien 2022“. 44 % der Eltern haben eine inadäquate oder problematische Ernährungskompetenz. Überforderung führe zu Reaktanz. Auch sie forderte unterstützende Rahmenbedingungen zur Umsetzung einer nachhaltigen Ernährung im Sinne von Klimaschutz aber auch Gesundheitsschutz der Familien.
Eine Kombination früher Risikofaktoren, z. B. Überernährung in utero, exzessive Gewichtszunahme in der Schwangerschaft, Stillen < 4 Monate, geht mit irreversiblen Stoffwechselreaktionen beim Kind einher und kann u. a. in Übergewicht des Kindes resultieren. Die Auswirkungen verschiedener „Fehlprogrammierungen“ auf die Gesundheit des Kindes erläuterte Prof. Dr. Regina Ensenauer, Institut für Kinderernährung Max-Rubner-Institut, in ihrem Vortrag „Folgen von fetaler Programmierung durch Überernährung in utero und frühe Prävention“.
Maria Flothkötter, Netzwerk Gesund ins Leben, Bundeszentrum für Ernährung (BZfE), referierte zu „Frühkindliche Gesundheitsförderung in Deutschland – Status quo und Perspektiven“ und erläuterte die 3 Ebenen der Verhaltensänderung: Mikroebene (Individuum + soziales Umfeld), Mesoebene (Lebenswelten), Makroebene (politische Ebene). Kompetenzen, Motivation und Möglichkeiten/Gelegenheiten beeinflussen das individuelle Ernährungs- und Gesundheitsverhalten. Diejenigen, die den größten Förderungsbedarf haben, werden i. d. R. am schlechtesten erreicht (Präventionsdilemma), daher sollte auf die Entwicklung barrierearmer Angebote fokussiert werden.
Wie sehen die „Sensorische Wahrnehmung im Kleinkindalter und die Folgen“ aus? Dieser Frage widmete sich Kirsten Buchecker, Hochschule Bremerhaven. Trotz höherer Anzahl an Geschmacksknospen auf der Zunge benötigen Kinder höhere Reizstimuli für die Grundgeschmacksarten süß und salzig als Erwachsene. Die kognitiven Fähigkeiten der Kinder scheinen sich also trotz physiologisch voll entwickelten Geschmackssinns noch in der Entwicklung zu befinden, weshalb in dieser Phase eine Beeinflussung der Geschmacksprägung möglich ist. Die angeborene sensorische Präferenz für süß wird von der Lebensmittelindustrie massiv bedient – und gerade an dieser Stelle müssen Reformulierungsstrategien ansetzen.
In ihrem Abschluss-Impuls plädierte Ronia Schiftan, Liebefeld, Schweiz, für eine stärkere Berücksichtigung kindlicher Bedürfnisse. Ratschläge seitens der Eltern und eine Einteilung in gesunde und ungesunde Lebensmittel seien nicht sinnvoll. Freude, Genuss, eine entspannte Essatmosphäre und die Weckung von Neugier seien Prädiktoren für die Entwicklung eines (gesunden) Essverhaltens, das sich phasenweise ändern könne.

Den ausführlichen Tagungsbericht der Dr. Rainer Wild-Stiftung finden Sie hier
 www.gesunde-ernaehrung.org/Heidelberger-ernaehrungsforum.html 



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 2/2025 auf den Seiten M68 bis M69.

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