Public-Health-Studie: Einschränkung des Zuckerkonsums in den ersten 1000 Tagen schützt vor chronischen Krankheiten
- 12.02.2025
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- Redaktion
- Peter von Philipsborn
Vor dem Hintergrund des 2022 erschienenen Working Papers The Sweet Life: Long-term Effects of a Sugar-rich Early Childhood untersuchten Gracner et al. in einer kürzlich in der Fachzeitschrift Science erschienenen Studie mit dem Titel Exposure to sugar rationing in the first 1000 days of life protected against chronic disease den Einfluss des Zuckerkonsums während der ersten 1000 Entwicklungstage (d. h. im Mutterleib und in den ersten beiden Lebensjahren) auf die Gesundheit [1].
Konkret wurden in der Studie die Auswirkungen von Zuckerrestriktionen innerhalb von 1000 Tagen nach der Empfängnis auf die Entwicklung von Typ-2-Diabetes und Bluthochdruck untersucht. Hierfür nutzten die Autor*innen quasi-experimentelle Daten aus der Zeit am Ende der Zuckerrationierung im Vereinigten Königreich im Jahr 1953. Die Zuckerrationierung wurde im Rahmen der allgemeinen Lebensmittelrationierung im Jahr 1940 eingeführt, um trotz der kriegsbedingten Mängel eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Mithilfe einer Regressions-Diskontinuitäts-Analyse (Regression Discontinuity Design [RDD]) konnten die Autor*innen kausale Effekte als Folge auf Veränderungen untersuchter Variablen identifizieren. In der Studie wurden Personen, die in den letzten zwei Jahren vor dem Ende der Zuckerrationierung geboren wurden (und die damit in utero und während ihrer ersten Lebensjahre vor einer zu hohen Zuckerzufuhr geschützt waren) mit solchen verglichen, die zwischen neun Monaten und 2 ½ Jahre nach Ende der Zuckerrationierung geboren wurden (und die damit bereits in utero und während ihrer ersten Lebensjahre einer höheren Zuckerzufuhr ausgesetzt waren). Damit wurde in der Studie auf die Daten von insgesamt 60000 Personen zurückgegriffen, die in diesen Zeiträumen geboren und zwischen 2006–2019 (im Alter von 51–66 Jahren) in die UK Biobank eingeschlossen wurden.
Bis zum Ende der Rationierung lag der durchschnittliche Zuckerkonsum in Großbritannien bei rund 50 g/Tag/Kopf und damit bei ca. 10 % der Gesamtenergiezufuhr pro Tag. Dies entspricht der aktuell von der WHO und der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfohlenen täglichen Maximalzufuhr an Zucker. Nach dem Ende der Rationierung verdoppelte sich der Verbrauch nahezu. Der Zuckerkonsum stieg bereits innerhalb eines Jahres auf rund 80 g/Tag/Kopf an. In der Folge kam es zu einer Zunahme der Nahrungsenergieaufnahme um rund 150 kcal/Tag/Kopf, wovon knapp 80 % auf die Zunahme des Zuckerverzehrs entfiel. Der Konsum anderer Lebensmittel blieb hingegen weitgehend unverändert.
Die Studie zeigt deutliche Effekte eines eingeschränkten Zuckerkonsums während der ersten 1000 Entwicklungstage: In den vor einem zu hohen Zuckerkonsum geschützten Geburtskohorten lag das Risiko eines Typ-2-Diabetes mellitus im Erwachsenenalter 35 %, das Adipositasrisiko 30 % und das Hypertonierisiko 20 % niedriger. Auch wurde der Ausbruch der Krankheiten um durchschnittlich 2–4 Jahre verzögert. Die Rationierung des Zuckers in utero war allein für etwa ein Drittel der Risikoreduktion verantwortlich. Weiterhin konsumierten Personen, die einem eingeschränkten Zuckerkonsum ausgesetzt waren, im Vergleich zu den nach dem Ende der Zuckerrationierung gezeugten Kindern auch noch 50 Jahre nach dem Ende der Rationierung deutlich weniger Zucker (11 g/Tag bzw. rund 20 % weniger). Ab dem 9. Monat nach Ende der Zuckerrationierung stieg das Erkrankungsrisiko in den darauffolgenden Geburtskohorten nicht mehr weiter an – was darauf hindeutet, dass der beobachtete Effekt nicht auf anderen Faktoren beruht. Zur Sicherstellung, dass die Ergebnisse nicht durch Störfaktoren (Confounding) zustande gekommen sind, führten die Autor*innen noch diverse weitere statistische Tests durch.
Literatur
1. Gracner T, Boone C, Gertler PJ: Exposure to sugar rationing in the first 1000 days of life protected against chronic disease. Science 2024; 386(6725): 1043–8.
Kommentar von Peter von Philipsborn*
Die Methodik und auch die Ergebnisse der kürzlich in Science veröffentlichten Studie zum Zuckerkonsum in den ersten 1000 Lebenstagen sind bemerkenswert. Die Ergebnisse bestätigen zahlreiche frühere Studien, die einen negativen Einfluss eines übermäßigen Zuckerkonsums auf die Gesundheit und die Bedeutung der Ernährung in den ersten 1000 Entwicklungstagen zeigen. Und sie zeigen auch, weshalb in der Ernährungsforschung quasi-experimentelle Studien eine sinnvolle Ergänzung zu randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) sind: Die fast-Verdoppelung des Zuckerkonsums der Bevölkerung eines ganzen Landes und eine Nachbeobachtungszeit von über 60 Jahren mit über 60000 Teilnehmer*innen lässt sich mit RCTs nicht bewerkstelligen. Die Ergebnisse untermauern auch die These, dass die weltweite Zunahme der Verfügbarkeit und des Konsums überzuckerter Lebensmittel einen wesentlichen Anteil an der Adipositas- und Diabetespandemie haben. Wie unausgewogen die Ernährung unter Kleinkindern in Deutschland ist, haben die kürzlich erschienenen Auswertungen der KiESEL-Studie gezeigt. Ermahnungen an Schwangere und Eltern, sich bzw. ihre Kinder gesund zu ernähren, sind vor diesem Hintergrund nachvollziehbar – und sind einfacher auszusprechen, als Maßnahmen umzusetzen sind, die eine gesunde Ernährung im Alltag für alle tatsächlich möglich und einfach machen würden. Solche Ermahnungen sind irritierend, wenn man bedenkt, dass es unsere Gesellschaft und die Politik nicht schaffen, Kinder und Jugendliche vor der allgegenwärtigen Werbung für ungesunde Lebensmittel zu schützen und für gesunde Verpflegungsangebote in Krippen, Kitas und Schulen zu sorgen. Umso bedenklicher ist es, dass es in der Ernährungspolitik in Deutschland in allen Bereichen, die über Strategieentwicklung und Zielableitung hinausgehen, kaum vorwärts geht.
* Team Public Health Nutrition, Ludwig-Maximilians-Universität München
Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 2/2025 auf Seite M70.