Zeitenwende oder Zeitschleife?: Ein Besuch der Auftaktveranstaltungen der 85. Internationalen Grünen Woche

Ein kommentierender Bericht von Dr. Karin Bergmann, München Klimaschutz, Nachhaltigkeit, Tierhaltung: Jeder stimmt sein Instrument, aber keiner will zusammenspielen. So lässt sich der Fachpresseauftakt am 15. und 16. Januar 2020 der IGW in Berlin zusammenfassen. Appelle zur Wertschätzung für die Lebensmittel sind allerorts zu hören. Allerdings kommt hier nicht zum Tragen, dass VerbraucherInnen an der Kasse keine Einzelstimmen belohnen, sondern ein orchestrales Zusammenwirken vom Acker bis zum Teller. Im Großen und Ganzen sind die Einzelinitiativen innerhalb der Wertschöpfungskette zu langsam, wenn auch im Kleinen nicht ohne Erfolg.

Joachim Ruckwied, Präsident des Deutschen Bauernverbandes, spricht für seine Klientel. „Unsicherheiten verunsichern uns“, sagt er auf der Eröffnungs-Pressekonferenz der weltweit größten Landwirtschafts- und Ernährungsmesse. Er präsentiert Daten: den Einkommensrückgang der Bäuerinnen und Bauern von 18 % im Vergleich zum Wirtschaftsjahr zuvor (Juni 2018; Ende Juni 2019) und eine zurückgegangene Investitionsbereitschaft, die ohnehin nur noch bei einem Drittel der LandwirtInnen vorhanden ist. Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Ernährungsindustrie, schaut zufrieden auf ein um 2,2 % gestiegenes Jahresergebnis der Ernährungsindustrie – trotz eindeutiger Anzeichen für die Eintrübung der wirtschaftlichen Zuwächse. Er findet, dass „die Ernährungsindustrie mit großen Schritten den notwendigen Weg hin zu mehr Generationen-Verantwortung geht“. Große Einigkeit herrscht unter den ideellen Trägern der IGW:

  • Politik und VerbraucherInnen müssen handeln.
  • Das europäische Agrarbudget muss stabil bleiben.
  • Die neue Agrarpolitik muss grüner werden.
  • Die zu niedrige Wertschätzung für Lebensmittel soll nicht nur für die Landwirtschaft, sondern auch zugunsten der Ernährungsindustrie erhöht werden.
  • Der europäische New Green Deal soll auch für Deutschland das Richtige bewirken.

Hatten der Hitzesommer 2018 und die Dürre-Ernte 2019 die Zeiten in Deutschland nicht längst gewendet? Dreht sich das Establishment in Deutschlands Land- und Lebensmittelwirtschaft im Kreis?

Auch der Bund der Ökologischen Landwirtschaft setzt auf aktivere Regierungspolitik. Präsident Dr. Felix Prinz zu Löwenstein1 sieht zu wenig staatliche Steuerungsinstrumente, die einen Systemwechsel im Umgang mit natürlichen Ressourcen, regionalen Wertschöpfungsketten und dezentralen Strukturen fördern: Hier wird zumindest deutlich, wohin man sich wendet. Diese Pressekonferenz soll zeigen, wie die Transformation ökologisch und ökonomisch gelingen kann.

Nun noch zur agrarjournalistischen JournalistInnen-Fragestunde mit Bundesministerin Julia Klöckner: „Ich würde auch irre werden, wenn ich Landwirt wäre“, sagt sie mit Bezug auf die neue Messstellenüberprüfung der Nitratwert-Messstellen für das europäische Meldeverfahren. Das ist aber kein Argument, denn Deutschland hat sich an den gesetzlichen Rahmen zu halten. Bei den neuen Schwerpunkten der Europäischen Kommission passen offensichtlich die Anforderungen und Budgets eben nicht zusammen. Auch Julia Klöckner fordert, dass VerbraucherInnen sich stärker am Preisaufschlags-Mix beteiligen müssen.

Ob am Ende eine stimmige Musik aus solchen Einzelstimmen wird, liegt am Dirigenten. Die Politik hat längst die Chance, DirigentIn zu sein. Soll die Zeitenwende in etwas Positives münden, muss Politik jetzt wissenschaftsbasiert dirigieren. In diesem Jahr waren insgesamt vier Bundesministerien auf der IGW vertreten: Ernährung/Landwirtschaft, Bildung/Forschung, Umwelt/ Naturschutz, Wirtschaftliche Zusammenarbeit/Entwicklung. Genau die Ressorts, die künftig Lebensmittelwertschätzung und Ernährungsbildung unter neuen gesellschaftspolitischen Prioritäten strategisch erzeugen sollten. Interessierte und befähigte VerbraucherInnen handeln in der Zwischenzeit. Denn sie wollen aus der Zeitschleife heraus und einige von ihnen zahlen sogar für Transformation. Es ist Zeitenwende: Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft beginnt am 1. Juli 2020!

Dr. oec. troph. Karin Bergmann, München

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1 2018 interviewte die ERNÄHRUNGS UMSCHAU Dr. Felix Prinz zu Löwenstein zum Thema:
-> www.youtube.com/watch?time_continue=17&v=FZAHthO5Eh8&feature=emb_logo 

Selektiv wahrgenommen: Good News von der IGW

Aktuell 622 253 Beschäftigte (Quelle Pressemeldung [PM] BVE) der Ernährungsindustrie leben von ihrer Arbeit.
• Deutschlands Lebensmittel sind Botschafter weltweit, wie die Exportquote von 33 % (PM BVE) zeigt.
• Deutschlands LandwirtInnen haben 235 000 km neue Blühstreifen für Insekten geschaffen (Angabe Rückwied im Rahmen der Eröffnungspressekonferenz DBV).
• Fast 110 000 Hektar mehr als im Vorjahr werden heute ökologisch bewirtschaftet (PM BÖLW).
• Digitale Experimentierfelder in der Landwirtschaft helfen, Pflanzenschutz und Tierhaltung passgenauer einzusetzen (Ministerin Klöckner auf der Eröffnungspressekonferenz).
• Unternehmen und Handelsmarken reformulieren ihre Produkte (PM Messe Berlin GmbH, Aussteller z. B. Nestlé).
• Sichtbare Praxisbeispiele für Reduktion von Lebensmittelverderb (PM Messe Berlin GmbH, Aussteller z. B. Danone) und klima-freundlichere Verpackungen (PM Messe Berlin GmbH, Aussteller, z. B. Mc Donalds).
• Förderung lokaler Wertschöpfungsketten (PM Messe Berlin GmbH, Aussteller, z. B. REWE).
• Fridays for Future ist erstmals Aussteller auf der IGW (Ausstellerkatalog).



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 2/2020 auf Seite M65.

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