Zwei Schritte vor und drei zurück?. Kontroverse um Front-of-Pack-Labeling

Nach einer einstweiligen Verfügung gegen die freiwillige Einführung des Nutri-Score und die Entscheidung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zur Entwicklung eines eigenen Kennzeichnungssystems scheint in Deutschland ein Nährwertkennzeichnungs-Modell, das VerbraucherInnen die Auswahl gesünderer Produkte erleichtert, in weite Ferne gerückt. In den letzten Wochen haben sich die Entwicklungen zu diesem Thema förmlich überschlagen und treiben seltsame Blüten. Eine kurze Chronologie:

7.2.2019 Der Hersteller iglo verkündet in einer Pressemeldung „Verbraucher können ab sofort die Nutri-Score-Kennzeichnung aller rund 140 iglo-Produkte einsehen. Auf der Website des Unternehmens befindet sich – neben den klassischen Nährwertaufstellungen und Produktbeschreibungen – die jeweilige Zuordnung gemäß der freiwilligen Lebensmittelkennzeichnung [1].“ Bereits Ende 2018 hatte das Unternehmen entsprechende Schritte angekündigt und war dafür durch die Verbraucherschutz-Organisation foodwatch ausdrücklich gelobt worden: „Erst Danone, jetzt Iglo - ein weiterer Lebensmittelhersteller erkennt, dass sich die Verbraucherinnen und Verbraucher die Nährwert-Ampel wünschen“ [2]. Zuvor hatten Unternehmen wie Nestlé und Unilever mitgeteilt, die Einführung eines eigenen Ampel-Systems außer bei Getränken nicht weiter zu verfolgen.

4.4.2019 Wie sich eine solche Kennzeichnung für verschiedene Produkte darstellt, hat die Verbraucherzentrale Hamburg Anfang April deutlich gemacht und auf ihrer Internetseite Hintergrundinformationen zur Berechnungsmethode veröffentlicht sowie 25 Produkte exemplarisch mit dem Nutri-Score gelabelt [3]. „Damit Verbraucherinnen und Verbraucher einen wirklichen Nutzen haben, sollte der leider noch freiwillige Nutri-Score möglichst schnell verpflichtend für alle Anbieter werden“, fordert Silke Schwartau von der Verbraucherzentrale Hamburg.
-> www.vzhh.de/nutri-score 

10.4.2019 Das Max Rubner-Institut (MRI) veröffentlicht den im Auftrag des BMEL erstellten vorläufigen Bericht „Beschreibung und Bewertung ausgewählter „front-ofpack“- Nährwertkennzeichnungs (NWK)-Modelle“ [5].
-> www.mri.bund.de/fileadmin/MRI/News/Dateien/MRI-Bericht-Naehrwertkennzeichnungs-Modelle.pdf 

Hintergrund ist, dass die große Koalition die Entwicklung eines FoP-Nährwertkennzeichnungsmodells (NWK-Modells) für vorgefertigte Produkte in den Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD der 19. Legislaturperiode aufgenommen hat. „Dieses in Deutschland zu etablierende NWK-Modell soll sich an bereits bestehende NWK-Modelle anlehnen…“ (BMEL).

Bei der Bewertung von 11 NWK-Modellen durch ein Expertengremium kamen neben juristischen (Konformität zur Lebensmittelkennzeichnungsverordnung und europäischem Rechtsrahmen) und formalen (Beteiligung von Regierung, Industrie, Gesundheits- und Verbraucherorganisationen) Kriterien v. a. auch die Verbraucherrelevanz zum Tragen: „Das primäre Ziel eines NWK-Modells, VerbraucherInnen die günstigere Produktauswahl zu erleichtern, bedeutet praktisch, dass der Vergleich zwischen Produkten innerhalb derselben Produktgruppe erleichtert wird.“ In dem Bericht schneidet das Nutri-Score-System durchaus gut ab.

Der Bericht kommt u. a. zu dem Fazit (Hervorhebungen durch die Redaktion):
Um zu einem NWK-Modell für Deutschland zu kommen, lassen sich aus Sicht des MRI zwei Wege verfolgen:
(1) Es wird unter Berücksichtigung der im Bericht dargelegten wissenschaftlichen Erkenntnisse sowie unter Beteiligung verschiedener Akteursgruppen ein neues NWK-Modell entwickelt. In diesem Fall ist eine mehrjährige Entwicklungsphase inklusive der Durchführung einer Wirkungsstudie mit VerbraucherInnen einzuplanen.
(2) Es wird eines der im vorliegenden Bericht bewerteten NWK-Modelle ausgewählt, im Rahmen eines Pilotprojekts mit VerbraucherInnen in Deutschland getestet und in der Folge den Gegebenheiten in Deutschland angepasst. In diesem Fall ist, abhängig vom gewählten NWK-Modell, von einem geringeren Zeitbedarf auszugehen.

10.4.2019 Das BMEL beauftragt das MRI mit der Entwicklung eines eigenen NWK-Modells. Laut BMEL-Pressemeldung [5] stellt der MRI-Bericht dar, „dass keines der bestehenden Systeme eine optimale Lösung für die Verbraucher bietet. (…) deshalb wurde das MRI damit beauftragt, ein weiteres Modell zu entwickeln. Dieses soll – gemeinsam mit vorhandenen relevanten Systemen – in einer Verbraucherbefragung getestet werden“.

11.4.2019 Der BLL – Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e. V. (der neue Name des deutschen Spitzenverbands der Lebensmittelbranche war bei Drucklegung des Hefts am 6. Mai noch nicht veröffentlicht) positioniert sich gegen den Nutri-Score und macht sich für eine von der Industrie entwickelte Lösung stark: „ein Blick nach Großbritannien, nach Frankreich oder auch in unser Land macht deutlich, dass weder die Lebensmittelampel noch der Nutri-Score mehrheitlich Unterstützung finden. (…) Alle Unternehmen eint die Meinung, dass die Diskussion und das Bemühen um einen einheitlichen europäischen Ansatz weiter fortgesetzt werden sollte, denn unterschiedliche Kennzeichnungssysteme schaffen einen zersplitterten Binnenmarkt. Das ist das, was sich die Lebensmittelwirtschaft am allerwenigsten leisten kann.“ [6]

16.4.2019 Das Landgericht Hamburg stoppt die freiwillige Einführung des Nutri-Score auf iglo-Verpackungen. Der in München ansässige Verein „Schutzverband gegen Unwesen in der Wirtschaft e. V.“ hatte eine einstweilige Verfügung erwirkt [7]. Wer auf der Suche nach den Verantwortlichen und der Interessenlage dieses Vereins googelt, findet, dass er häufig im Zusammenhang mit Abmahnungen erscheint. Auf der eigenen Website formuliert der Verein: „Der Schutzverband wird häufig auf Veranlassung von Unternehmen, aber auch aus eigener Initiative tätig.“ [8]

17.4.2019 Die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) kritisiert diese Entscheidung: „Das Urteil zeigt, dass die deutsche Politik die Entwicklung im Lebensmittelmarkt verschlafen hat. Verbraucher und Hersteller wünschen sich eine klarere Nährwertkennzeichnung, wie sie durch den wissenschaftlich fundierten Nutri-Score gewährleistet ist. Innovative Hersteller dürfen diesen aber in Deutschland nicht verwenden, auch weil das Ernährungsministerium sich weigert, den Nutri-Score einzuführen – vermutlich aus Rücksicht auf die Hersteller ungesunder Produkte.“ [9]

15.5.2019 Die aktuelle Ernährungs Umschau erscheint. Dass eine leicht verständliche Nährwertkennzeichnung auf der Verpackungsvorderseite nicht nur wünschenswert ist, sondern für VerbraucherInnen auch hilfreich, zeigt nicht zuletzt die aktuelle Studie von Egnell et al., die wir ab Seite M260 in diesem Heft vorstellen.

Kommentar: „Das Bessere ist der Feind des Guten“, so könnte man die nun in Deutschland fortgeführte Suche nach einem NWK-System begründen; nach dem idealen System, das bei keinem Lebensmittel/ Gericht und keiner Bevölkerungssubgruppe keinerlei Missverständnisse zulässt, alle Interessensgruppen zufriedenstellt und zugleich konform zu bestehendem deutschen und EU-Recht ist.

Doch warum kann diese Suche nicht parallel zur Einführung eines bereits validierten Systems wie dem Nutri-Score geschehen? In der (mehrjährigen) Zwischenzeit hätten die deutschen VerbraucherInnen auf jeden Fall bereits einen Nutzen davon, selbst wenn sie dann mal „ein Menü aus Pommes-Frites, Schnitzel und einem Light-Softgetränk essen, das durch den dahinterstehenden Nutri-Score-Algorithmus eine positive, grüne Bewertung (B) bekäme“ (BMEL-Kritik am Nutri-Score). Selbstverständlich müssen auch dessen Algorithmen laufend überprüft und ggf. verfeinert werden. Der Verdacht drängt sich auf, dass Politik und Lebensmittelwirtschaft auf Zeit spielen (bereits 2010 haben wir in der ERNÄHRUNGS UMSCHAU über dieses Thema berichtet [10]). WissenschaftlerInnen sollten sich auf der Suche nach der akademisch ausgefeiltesten Lösung nicht vor diesen Karren spannen lassen.

Dr. Udo Maid-Kohnert

Quellen und weiterführende Informationen:

  1. Verbraucher aufgepasst! Nutri-Score-Werte aller iglo-Produkte sind jetzt öffentlich. Pressemeldung vom 7.2.2019
  2. Foodwatch-Pressemeldung vom November 2018
  3. Verbraucherzentrale Hamburg e. V., Pressemeldung vom 04.04.2019
  4. www.mri.bund.de/fileadmin/MRI/News/Dateien/MRI-Bericht-Naehrwertkennzeichnungs-Modelle.pdf  Zugriff 26.04.19
  5. BMEL: Eine europäisch abgestimmte, vereinfachte Nährwertkennzeichnung wäre der beste Weg. Pressemeldung vom 11.4.2019
  6. Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e. V. (BLL), Pressemeldung vom 11.04.2019
  7. Zu transparent? Nutri-Score vorläufig verboten. Iglo-Pressemeldung vom 16.4.2019
  8. www.schutzverband-muenchen.de/  Zugriff 26.04.19
  9. Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK), Pressemeldung vom 17.04.2019
  10. Erbersdober H. Ampel und kein Ende. Ernährungs Umschau 57(5): 252–255
  11. https://solidarites-sante.gouv.fr/prevention-en-sante/preserver-sa-sante/nutrition/article/articles-scientifiques-et-documents-publies-relatifs-au-nutri-score  (Website des französischen Gesundheitsministeriums zur Evaluation von Nutri-Score)


Diesen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 5/2019 auf Seite M256 bis M257.

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