Ernährungspolitik: Von Lob bis Schnappatmung. Gemischte Reaktionen auf Empfehlungen des Bürgerrats Ernährung
- 14.02.2024
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- Udo Maid-Kohnert
Für den Bürgerrat Ernährung des Bundestags wurden 160 Teilnehmende ausgelost, um die gesamte Gesellschaft abzubilden. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) war bei der Zusammensetzung des Gremiums und dessen Arbeit nicht eingebunden. Zu den neun Empfehlungen des Bürgerrats gehören u. a.:
- ein kostenfreies Mittagessen für alle Kinder,
- die verpflichtende Weitergabe von nicht verkauften Nahrungsmitteln durch den Lebensmittelhandel,
- eine insgesamt logischere Regelung der Umsatzsteuer auf Lebensmittel und
- eine Verbrauchsabgabe für mehr Tierwohl.
Kommentar der Redaktion:
(umk) „Laute“ Ernährungsthemen haben gerade große mediale Präsenz: Zwischen den Bauernprotesten und dem Beginn der Grünen Woche in Berlin hätte die eher geräuschlose Arbeit des Bürgerrats Ernährung daher schnell untergehen können. Dass die Empfehlungen aber durchaus Brisanz haben, zeigt das Spektrum der Reaktionen:
„Die Forderungen des Bürgerrats sind eine gute Mischung aus schnell umsetzbaren Maßnahmen und mittelfristigen Strategien“, so Dr. Ophelia Nick, parlamentarische Staatssekretärin im BMEL [2].
Noch vor der Pressemeldung des zuständigen Ministeriums meldete sich der Lebensmittelverband Deutschland e. V. (BLL) in einer Pressemeldung [3] zu Wort: „Empfehlungen des Bürgerrates Ernährung sind realitätsfern“ war noch die zahmste Passage des Textes (s. u.).
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) resümierten [4]: „Die Empfehlungen des Bürgerrates sind eindeutig und zeigen, was die Menschen in unserem Land wirklich wollen.“
Was von den Vorschlägen des Bürgerrats im sich nun anschließenden parlamentarischen Prozess umgesetzt wird, bleibt abzuwarten.
Dass aber ausgerechnet der Lobbyverband der Lebensmittelwirtschaft verbal gleich mehrmals entgleist, macht nachdenklich: „Eine weitere staatlich eingesetzte Kommission hat erneut politische Binsenweisheiten erarbeitet“, „Ergebnisse des sogenannten Bürgerrates entstammen der ernährungspolitischen Mottenkiste“, so das Wording der Pressemeldung.
Auch eine fragwürdige Einstellung zu neuen Prozessen gesellschaftlicher Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen wird in der Pressemeldung deutlich: „Mit repräsentativen demokratischen Prozessen hatte das wenig zu tun. Die Empfehlungen des Bürgerrates haben jedenfalls keinerlei Wert und Bedeutung für Produzenten… [3].“
Frage: Wenn´s doch keine Bedeutung hat, warum dann die äußerst eilige Pressemeldung?
Zur Erinnerung: In ihrem Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP vereinbart, neue Formen des Bürgerdialogs zu nutzen, zum Beispiel Bürgerräte. Bislang wurden in Deutschland 9 bundesweite Bürgerräte etabliert (u. a. zur Verkehrswende, zu Klima, zu Deutschlands Rolle in der Welt), auf Länder- und kommunaler Ebene sind es ungleich mehr. Das Verfahren zur Zusammenstellung dieser Gremien ist gut dokumentiert [5].
Das Prinzip der Bürgerräte hat international bereits Lösungsansätze für Konflikte zum Laufen gebracht, die weder Profi-Politiker*innen allein, noch gut bezahlten Lobbyist*innen gelangen (z. B. zum Thema Geschlechtergerechtigkeit). Bürgerräte gelten als „eine Gelegenheit, Lösungen für unlösbare Probleme anzubieten“ [6].
Die Europäische Kommission veröffentlichte am 12.12.2023 Empfehlungen zur Förderung der Bürgerbeteiligung in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) [7]. Wenn der BLL nun meint: „Das Steuergeld, das für diesen scheindemokratischen Prozess ausgegeben wurde, hätte man besser den Landwirten zur Verfügung gestellt“, macht das nachdenklich.
Zum Vergleich: Der als Pilotprojekt aufwändige Bürgerrat Demokratie kostete 1,4 Mio. Euro. Im Jahr 2022 war allein der Lebensmitteleinzelhandel mit rund 2,6 Mrd. Euro die Branche mit den höchsten Werbeausgaben in Deutschland [8]. Viel Geld, das auch die Bauern und Bäuerinnen erwirtschaften.
Die Teilnehmer*innen des Bürgerrats Ernährung haben viel Zeit und Konsensfähigkeit in die Vorschläge für wichtige gesellschaftliche Fragen investiert. Die Pressemeldung des BLL hingegen ist ein Musterbeispiel von unsachlicher Polemik, sie versucht Politikverdrossenheit zu schüren, bewirkt bei mir aber nur Lobby-Verdrossenheit.
Literatur
1. Bürgerrat Ernährung des Deutschen Bundestages: Empfehlungen an den Deutschen Bundestag. Bürgerrat „Ernährung im Wandel“. www.bundestag.de/resource/blob/984354/39efba25c218ee935e26f786abbce81c/Empfehlungen_buergerrat.pdf (last accessed on 16 January 2024).
2. BMEL: Bürgerrat Ernährung: Rückenwind für bürgernahe Ernährungspolitik. Staatssekretärin Nick zu Empfehlungen des Bürgerrats Ernährung. Pressemeldung vom 15.01.2024.
3. Lebensmittelverband Deutschland e. V.: Empfehlungen des Bürgerrates Ernährung sind realitätsfern. www.lebensmittelverband.de/de/presse/pressemitteilungen/20240115-empfehlungen-des-buergerrates-ernaehrung-sind-realitaetsfern (last accessed on 17 January 2024).
4. DDG/DANK: Keine Denkverbote bei der Lebensmittelbesteuerung. www.ddg.info/presse/2024/dank-keine-denkverbote-bei-der-lebensmittelbesteuerung (last accessed on 17 January 2024).
5. Bürgerrat: Bundesweite Bürgerräte. www.buergerrat.de/buergerraete/bundesweite-buergerraete/ (last accessed on 16 January 2024).
6. Bertelsmann Stiftung: Von Irland lernen: Wie Bürgerbeteiligung die Demokratie verändert. www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/new-democracy/projektnachrichten/von-irland-lernen-wie-buergerbeteiligung-die-demokratie-veraendert (last accessed on 16 January 2024).
7. European Commission: Recommendation on the participation of citizens and civil society organisations in public policy-making. https://commission.europa.eu/document/fcb629fe-ca20-4019-b1f6-392c286fdedf_en?prefLang=de (last accessed on 16 January 2024).
8. Statista: Ranking der Branchen mit den höchsten Werbeaussagen in Deutschland im Jahr 2022. https://de.statista.com/prognosen/75226/branchen-mit-den-hoechsten-werbeausgaben-in-above-the-line-medien (last accessed on 16 January 2024).
Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 2/2024 auf Seite M60.