peb- Kongress 2021: „Raus aus dem Präventionsdilemma“

(scs) Warum erreichen öffentliche Maßnahmen zur Gesundheitsförderung v. a. Kinder und Jugendliche aus sozial besser gestellten Familien? Wie können wir das ändern, sodass alle Familien von Gesundheitsförderung profitieren? Diesen Fragen ging der diesjährige Kongress der Plattform Ernährung und Bewegung nach, erfolgreich unterstützt von einer Reihe von ExpertInnen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen. Rund 300 TeilnehmerInnen nutzten am 24. Februar das Streaming-Angebot, um bei der Veranstaltung dabei zu sein, die peb jährlich in Zusammenarbeit mit dem Lebensmittelverband Deutschland anbietet.

Präventionsdilemma

Den Begriff „Präventionsdilemma“ erläuterte Moderatorin Ruth Hammerbacher: Gesundheitliche Präventionsmaßnahmen werden überwiegend im Rahmen von „Gesundheitsaufklärung“, d. h. als auf Verhalten abzielende Maßnahmen angeboten. Bei Gruppen in schwierigen sozioökonomischen Lagen kommen diese allerdings selten an. Gruppen mit höherem Einkommen und Bildungsgrad profitieren hingegen von solchen Angeboten, da die Ansprache z. B. in Broschüren und Kursangeboten mehr auf sie zugeschnitten ist. Das führt dazu, dass die soziale Kluft zwischen Erfolg und Versagen von Präventionsangeboten und damit die gesundheitliche Ungleichheit weiter wachsen.

„Aufklärung wird nicht helfen, solange diese sozialen Rahmenbedingungen bestehen“, betonte dazu Prof. Julika Loss, Leiterin des Bereichs Gesundheitsverhalten im Robert Koch-Institut. Sie stellte Zahlen aus der Gesundheitsberichterstattung zur sozialen Kluft des Übergewichts vor. Diese zeigen z. B., dass über 25 % der Kinder in Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status (SES) übergewichtig sind, hingegen nur 8 % in Familien mit hohem SES. Welche Faktoren für diese Schieflage verantwortlich sind, ist bisher nicht ausreichend erforscht. Eine Rolle spielen könnten laut Loss u. a. der begrenzte finanzielle Handlungsspielraum, Zeitmangel, beengte Wohnverhältnisse, nachgiebige Erziehungsstile, z. T. aus Schuldgefühlen heraus, und strukturelle Deprivation durch ein Wohnumfeld mit wenig Grünflächen und Spielmöglichkeiten.

Abb. 1: Sechs Thesen zur Verbesserung der Gesundheitsförderung für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche der Plattform Ernährung und Bewegung e. V. © Plattform Ernährung und Bewegung e. V. (peb)
Abb. 1: Sechs Thesen zur Verbesserung der Gesundheitsförderung für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche der Plattform Ernährung und Bewegung e. V. © Plattform Ernährung und Bewegung e. V. (peb)
Zusammenarbeit und Regelstrukturen nötig

Prof. Georg Cremer, ehemaliger Generalsekretär der Caritas, wies dringlich darauf hin, dass für gelungene Gesundheitsförderung und Prävention eine viel engere Zusammenarbeit verschiedener Institutionen im Sozialstaat nötig sei. Es müssten niederschwellige gesundheitsförderliche Regelstrukturen für alle aufgebaut werden, u. a. in Bildungsinstitutionen, Ämtern, Kommunen. Diese müssten durch Zusatzangebote für „erschöpfte Familien“ ergänzt werden.

Eine „Balance aus Eigenverantwortung und staatlicher Steuerung“ sei anzustreben. Michaela Goecke, Leiterin des Referats Suchtprävention in der BZgA, unterstrich diese Forderung: Die Verbindung von Verhaltens- und Verhältnisprävention sei beim Tabakkonsum sehr erfolgreich gewesen. Sie sieht die Steuerungsmaßnahmen zur Reduzierung des Rauchens als Role Model für die ernährungsbezogene Gesundheitsförderung.

Maßnahmen nach Zielgruppen differenzieren

Dass der SES an sich noch kein ausreichendes Merkmal für die Identifizierung und Ansprache von Zielgruppen in der Prävention ist, erläuterte Heide Möller-Slawinski, die an der SINUS-Jugendstudie 2020 mitgearbeitet hat. „Sozial benachteiligte“ Jugendliche seien keineswegs eine homogene Gruppe, vielmehr gebe es ganz verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Motivationen, Vorbildern und Bedürfnissen. Um Jugendliche zu erreichen, die sich hinter den Computer oder ihr Handy zurückziehen, kaum Einstellung zu ihrem Körper haben und Ausgrenzungserfahrungen erleben, müssten z. B. ein anderer Zugang und eine andere Ansprache gewählt werden als bei solchen, die mithilfe von Diäten und/oder Training ihren Körper nach außen inszenieren.

Für ExpertInnen ist es ihrer Meinung nach kaum möglich, sich in die Lebenswelten verschiedener Milieus von Jugendlichen hineinzudenken. Partizipation sei daher extrem wichtig, MultiplikatorInnen müssten „mit den Jugendlichen sprechen, nicht über sie“. Um einen Zugang zu bekommen, dürfe man Kinder und Jugendliche, die durch ihre Entwicklungsphase und evtl. zusätzlich schwierige Lagen sowieso z. T. verunsichert seien, zudem nicht auf ihre Defizite reduzieren. Essenziell für den Erfolg sei es vielmehr, mit ihnen ressourcenorientiert zu arbeiten, ihre Stärken zu nutzen, ihre Bedürfnisse zu erfragen und sie zu fördern.

„Wichtig ist, dass wir da sind, wo die Kinder sind.“

In der – den Beschränkungen einer Online-Veranstaltung trotzenden – spannenden Diskussion stellte Pastor Bernd Siggelkow („Die Arche“) heraus: „Wenn ich da bin wo das Kind ist, muss ich nicht überlegen, wie ich es erreiche.“ – ein Plädoyer für die aufsuchende Verhältnisprävention. Die teilnehmenden ExpertInnen machten noch eine Reihe weiterer Vorschläge, wie das Präventionsdilemma überwunden werden könnte: Von der Kindergrundsicherung, um die sozial Schwächsten materiell zu stärken, über eine verstärkte Orientierung des Bildungssystems am Kind zu einer ausreichenden finanziellen Ausstattung der Anliegen Gesundheitsförderung/ Minderung der Folgen sozialer Ungleichheit.

Sechs Thesen

Die Erfahrungen, Studienergebnisse und Forderungen der ExpertInnen zur Überwindung des Präventionsdilemmas wurden von der Plattform Ernährung und Bewegung schon im Vorfeld der Veranstaltung in „Sechs Thesen zur Verbesserung der Gesundheitsförderung für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche“ zusammengefasst (• Abbildung 1), die auf den Internetseiten von peb (⇒ www.pebonline.de/peb-kongress/ erläutert werden.

Anmerkung der Redaktion: Eine gut organisierte Veranstaltung mit interessanten Vortragenden, die einmal mehr zeigte: Ideen und Maßnahmen sind vorhanden, nun wäre es an der Zeit, die „Projektitis“ zu beenden und aus deren Ergebnissen ein politisches Konzept zu erstellen und umzusetzen. Dazu braucht es allerdings den politischen Willen, der Gesundheitsförderung zugunsten eines stabileren sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft in Finanzierung und Durchführung hohe politische Priorität zu geben. Angesichts der Probleme des Gesundheitssystems durch die Pandemie scheint dies jedoch zunächst in die Ferne gerückt.

Praxisbeispiele, die erfolgreich neue Wege im Präventionsdilemma gehen:

- Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin: Im Modellprojekt „Soziale Prävention“ in Kinder- und Jugendarztpraxen in Nordrhein-Westfalen waren jeweils an einigen Tagen der Woche VertreterInnen der Kinder- und Jugendhilfe in der Kinderarztpraxis anwesend. Das Angebot wurde von 80 % derjenigen, denen es vom Kinder- und Jugendarzt/von der Kinder- und Jugendärztin empfohlen wurde, in Anspruch genommen. Akzeptanz und Praktikabilität wurden von den Teilnehmenden als positiv bewertet. Der besondere Reiz an diesem Angebot liegt darin, dass es niederschwellig ist und Familien mit Problemen nicht „aufs Amt“ müssen, um sich Beratung und Hilfe zu holen.
→ www.dgkj.de/unsere-arbeit/projekte-fuer-die-kindergesundheit/nrw-modellprojekt-soziale-praevention 

- Ethno-Medizinisches Zentrum: Im Projekt MiMi – Mit Migranten für Migranten – werden bilinguale (größtenteils weibliche) MigrantInnen mobilisiert, geschult und zertifiziert und damit in die Lage versetzt, in ihrer jeweiligen Muttersprache selbstständig in den Lebensräumen von MigrantInnen Informations- und Aufklärungsveranstaltungen zu Themen der Gesundheit durchzuführen.

- Hochschule Leipzig, Dr. Ulrike Igel: Das Projekt „Grünau bewegt sich“ ist ein kommunales Gesundheitsförderungsprojekt in Grünau, einem von Plattenbausiedlungen geprägten Leipziger Stadtviertel. Gemeinsam mit MultiplikatorInnen aus dem Quartier sowie einer Sozialarbeiterin werden laufend die Bedürfnisse der hier wohnenden Menschen analysiert und stimmige, partizipative Maßnahmen entwickelt. „Es braucht den Willen, die Lebenswelten zu verstehen, und man muss auch akzeptieren, dass Gesundheit eine unterschiedliche Gewichtung hat“, ist eine der Erfahrungen von Dr. Igel aus dem Projekt ( Stadtteilbezogene Gesundheitsförderung zur Übergewichtsprävention bei Kindern in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 2016; 63(1): 8–15)

- Plattform Ernährung und Bewegung: Im Projekt „Gemeinsam gesund: Vorsorge plus für Mutter und Kind“ (GeMuKi) werden Frauen-, Kinder- und Jugendärzte/-ärztinnen sowie Hebammen geschult, Schwangeren und jungen Eltern im Rahmen der Vorsorge in Beratungseinheiten in der Arztpraxis gesundheitsfördernde Empfehlungen zu ihrer Lebenssituation zu vermitteln (⇒ ERNÄHRUNGS UMSCHAU 11 und 12/2020; „Ernährungspraxis & Diätetik“).



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 4/2021 auf Seite M182 bis 183.

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