Adipositas-Kongress 2022: Versorgungslücke Adipositas
- 14.11.2022
- Print-News
- Redaktion
Die Finanzierung der Adipositastherapie müsse gewährleistet sein und verhaltens- und verhältnispräventive Maßnahmen sollten stärker forciert werden. Hierbei stehe die Politik in der Verantwortung, um Grundlage für einen verbesserten bzw. erleichterten Gesundheitsschutz zu schaffen (⇒ „Wissenschaftliche Evidenz in der Ernährungspolitik“ und „Steuerungsinstrumente im Ernährungssystem“ in ERNÄHRUNGS UMSCHAU Heft 1/2022).
„Die Adipositastherapie ist keine Lifestyle-Beratung, sondern die Behandlung einer chronischen Krankheit. Diese Erkenntnis hat sich in der wissenschaftlichen Fachwelt längst durchgesetzt“, erklärt Dr. Christina Holzapfel, DAG-Vorstandsmitglied und Tagungspräsidentin 2022. „Dass die Adipositastherapie in aller Regel eine freiwillige Leistung der Krankenkassen darstellt, ist weder gerechtfertigt noch zielführend. Die fehlende Sicherheit bei der Kostenübernahme erschwert eine evidenzbasierte Behandlung enorm – vor allem im ambulanten Bereich“, ergänzt Prof. Hans Hauner, ebenfalls DAG-Vorstandsmitglied und Tagungspräsident.
Aktuell muss die Kostenübernahme für Adipositastherapie individuell beantragt werden. Ob und zu welchem Anteil bspw. die Kosten für Ernährungsberatung oder Bewegungstherapie übernommen werden, ist eine individuelle Entscheidung der jeweiligen Krankenkasse. Andere Therapieoptionen wie die begleitende Arzneimitteltherapie werden grundsätzlich nicht erstattet, da eine Verschreibung von Präparaten zur Gewichtsreduktion zu Lasten der Kassen gesetzlich ausgeschlossen ist. Lediglich bei geprüften Smartphone-Apps, den sog. digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs), müssen Kassen die Kosten übernehmen. „Der menschliche Körper verteidigt sein Körpergewicht mit allen Kräften, sodass dauerhaftes Abnehmen den allermeisten Menschen ohne professionelle Hilfe nicht gelingt“, erklärt Prof. Jens Aberle, Präsident der DAG und ärztlicher Leiter am Adipositas-Centrum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). „Eine Gewichtsreduktion kann das Risiko für schwerwiegende Folgeerkrankungen wie Herzkrankheiten oder Typ-2-Diabetes verringern. Doch anstatt ein erhöhtes Körpergewicht frühzeitig zu behandeln, greift unser solidarisches Gesundheitssystem erst dann, wenn die Folgeschäden schon aufgetreten sind“, kritisiert Aberle.
Der Bundesgesetzgeber hat die Versorgungslücke erkannt und im Jahr 2020 eine Reform auf den Weg gebracht. Die Adipositas wurde mit Verabschiedung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) offiziell als Krankheit anerkannt. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) muss bis Juli 2023 ein strukturiertes Behandlungsprogramm für Betroffene von Adipositas beschließen („DMP Adipositas“). Das stellt aus Sicht der DAG einen „Meilenstein“ dar und kann ein Anstoß sein, die defizitäre Versorgungssituation zu verbessern. Allerdings kann ein DMP allein das grundlegende Problem der fehlenden Kostenübernahme nicht lösen. Dazu müsse der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen überarbeitet und die rechtlichen Hürden für die Arzneimitteltherapie beseitigt werden, so die DAG.
Wie Adipositas behandelt wird
• Die Behandlung ist abhängig von den Begleiterkrankungen und dem Schweregrad der Adipositas.
• Ziel ist einerseits eine Gewichtsreduktion oder -stabilisierung und andererseits eine Senkung des Risikos für Folgeerkrankungen.
• Bei einem BMI ≥ 30 kg/m² ist die sog. multimodale Basistherapie (Ernährung, Bewegung, Verhalten) angezeigt. Im Schnitt erreichen PatientInnen mit der Basistherapie eine Gewichtsreduktion von etwa 5 % des Ausgangsgewichts. Wie hoch der Kostenzuschuss der Krankenkasse und der Eigenanteil sind, hängt von der Krankenkasse, dem Anbieter der Leistung und dem individuellen Kostenübernahmeantrag ab.
• Die multimodale Basistherapie kann bei einem BMI zwischen 30 kg/m² und 40 kg/m² auch durch Smartphone-Apps, sog. DiGAs, unterstützt werden. Die Kosten für zugelassene DiGAs müssen vollständig von der Krankenkasse übernommen werden (Liste der zugelassenen DiGAs: https://diga.bfarm.de/).
• Wenn mit der multimodalen Basistherapie keine ausreichende Gewichtsreduktion erzielt wird, können gemäß medizinischer Leitlinien begleitende Arzneimittel eingesetzt werden, die das Sättigungsgefühl verstärken und die Magenentleerung verlangsamen. Neuartige Wirkstoffe aus der Gruppe der Inkretin-Mimetika bewirken in Kombination mit der Basistherapie eine durchschnittliche Gewichtsreduktion von 10–15 % des Ausgangsgewichts. Die Kostenübernahme durch die Kassen ist gesetzlich ausgeschlossen (Kosten: ca. 300 €/Monat).
• Bei PatientInnen mit Adipositas Grad III (BMI ≥ 40 kg/m²) oder Adipositas Grad II (BMI ≥ 35 kg/m²) und erheblichen Begleiterkrankungen wird eine Magen-OP empfohlen. Die chirurgische Therapie ist die wirksamste Methode zur Gewichtsreduktion und führt im Durchschnitt – je nach OP-Verfahren – zu etwa 20–35 % Gewichtsverlust. Auch bei einer OP ist eine multimodale Begleittherapie und zudem eine lebenslange Nachsorge erforderlich. Die Kostenübernahme für Magen-OPs ist an gewisse Voraussetzungen gebunden, die sich je nach Region und Kasse unterscheiden.
Quelle: Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG), Pressemeldung vom 06.10.2022
Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 11/2022 auf den Seiten M594 bis M595.