30. Fachtagung der DGE-Sektion Thüringen – teilweise „unplugged“: Essstörungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen

(umk) Die DGE-Sektion Thüringen blickt mittlerweile auf 30 Jahre erfolgreicher Projekte und Veranstaltungen zurück1. Die Thüringer Ministerin für Migration, Justiz und Verbraucherschutz Doreen Denstädt betonte in ihrem Grußwort die erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Sektion und deren Bedeutung für den gesundheitlichen Verbraucherschutz. Prof. Dr. Stefan Lorkowski und Prof. Dr. Michael Glei als wissenschaftliche Leiter der Veranstaltung konnten am 09.11.2023 rund 300 Teilnehmer*innen im Hörsaal der Ernst-Abbe-Hochschule begrüßen. Herausfordernd: Aufgrund eines längeren Stromausfalls mussten einige Vorträge teilweise „unplugged“, also ohne Mikrofon und Beamer-Präsentation stattfinden. Das wurde jedoch von den Referent* innen und Organisator*innen souverän gemeistert.

Unter dem Titel „Wenn Essen zur Qual wird“ standen bei dieser Fachtagung Ursachen, Prävention und Therapie von Essstörungen in unterschiedlichen Altersgruppen im Mittelpunkt. Anorexia nervosa mit selbst herbeigeführtem Untergewicht und manifester Körperschemasteuerung, Bulimia nervosa mit Episoden von unkontrolliertem Verlangen nach Essen und anschließenden gewichtsreduzierenden Maßnahmen (Erbrechen, exzessiver Sport), die Binge-Eating-Störung, gekennzeichnet durch wiederholte Essanfälle ohne kompensatorische Maßnahmen, aber auch Orthorexie und Muskeldysmorphie zeigen die enge Verwicklung von Nahrungsaufnahme, Körperwahrnehmung und (vermeintlichen) gesellschaftlichen Erwartungen. Für Prävention und Therapie erfordert dies multidisziplinäre Ansätze aus Ernährungsberatung und -therapie, Psychotherapie und Medizin.
Online zugeschaltet schilderte Prof. Dr. Uwe Berger, Jena, die vielen Gesichter von Essstörungen. Diagnostische Herausforderungen, z. B. Mischformen der Krankheitsbilder, führen zu teilweise recht unterschiedlichen Prävalenzangaben. Auch unterschiedliche Klassifizierungen auf Basis der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) 10 und des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM) in Version 4 und der neuen Version DSM-5 führen zu teilweise divergierenden Zahlenangaben. Entsprechend vielfältig müssen auch die therapeutischen Ansätze sein: Die sog. integrierte Versorgung umfasst spezialisierte Beratung, ambulante und stationäre Therapie sowie Nachsorge und Selbsthilfe. PD Dr. Isabelle Mack, Uniklinium Tübingen, knüpfte hier an und beschrieb Ansätze und Herausforderungen der Ernährungsrehabilitation bei Essstörungen. Insbesondere bei extrem untergewichtigen Personen sind hier zusätzliche Risiken wie das Refeeding-Syndrom2 zu beachten.
Die Binge-Eating-Störung (BES) wird im DSM-5 erstmals als eigenständige Essstörung klassifiziert. Wiederholte Essanfälle ohne kompensatorische Maßnahmen führen häufig zu teilweise starkem Übergewicht. Prof. Dr. Reinhard Pietrowsky, Düsseldorf, beschrieb die Lebenssituation Betroffener. Schamgefühl aufgrund der Essanfälle und des Körpergewichts führen häufig zu sozialem Rückzug. Als besonders effektiv in der Behandlung und damit in der Reduktion von Essanfällen hat sich die kognitive Verhaltenstherapie erwiesen, ergänzend können Antidepressiva und stimulierende Medikamente (z. B. das ADHS-Medikament Lisdexamphetamin) eingesetzt werden.
Wo liegt die Grenze zwischen ständiger, teilweise extremer Auseinandersetzung mit (gesundem) Essen und Krankheit? Besonders schwer fällt diese Unterscheidung bei orthorektischem Essverhalten. Ist es noch eine „healthy Orthorexia“ oder bereits eine Orthorexia nervosa mit Krankheitswert? Prof. Dr. Jana Strahler, Freiburg, ging auf das gesellschaftliche Umfeld mit dem hohen Stellenwert von Gesundheit und Fitness als Rahmenbedingung ein. Sie machte zugleich Lücken im gegenwärtigen Verständnis der Orthorexia nervosa3 deutlich. Diagnostisch relevant sind nach neueren Studien v. a. die beiden unterschiedlichen Hauptmotive: Steht die Gewichtskontrolle gegenüber gesundheitlichen Überlegungen (z. B. Inhaltsstoffe, Bioanbau) im Vordergrund, spricht das eher für unangemessenes Essverhalten mit Krankheitswert.
In den 1990er Jahren wurde die Muskeldysmorphie4 erstmals als „männliches Pendant“ zur Anorexia nervosa beschrieben. Die überwiegend männlichen Betroffenen empfinden sich selbst bei bereits ausgeprägter Muskulatur als zu wenig muskulös, ihren Körper als zu wenig „definiert“. Gerade in der Pubertät bestehen oft unrealistische Vorstellungen von idealen Körperproportionen. Prof. Dr. Christian Strobel, München, macht dies an den in den letzten Jahrzehnten zunehmend muskelbepackten Körperformen von Action- und Superheldenfiguren in Comics und Spielfilmen deutlich. Die exzessive Beschäftigung mit Sport, Muskelaufbau und darauf abgestimmter Nahrungszufuhr kann zu sozialem Rückzug, zeitlicher Überforderung, aber auch Versagensgefühlen führen. Betroffene haben oft eine geringe Krankheitseinsicht, der sog. sekundäre Krankheitsgewinn (z. B. Anerkennung für sportlichen Körper oder das Trainingspensum) steht der Motivation zur Veränderung des Ernährungsverhaltens entgegen.
Essstörungen aus Sicht einer Betroffenen schilderte Sabrina Scharf, Sinzheim. Sie machte am Beispiel der Anorexia nervosa deutlich, dass das Umfeld die Krankheit in der Anfangsphase nicht erkennt oder ernst nimmt oder mit Unverständnis reagiert: „Iss doch einfach.“ Auch hier ist der sekundäre Krankheitsgewinn, in diesem Fall die starke Kontrolle über aufgenommene Nahrung und das Körpergewicht, ein wichtiger Faktor. Gewichtszunahme kommt in diesem Krankheitsstadium einem Kontrollverlust gleich. Scharf machte deutlich, dass in der Therapie die Kombination aus Gewichtsnormalisierung und psychologischer Begleitung sehr wichtig ist. Sie machte an Beispielen deutlich, wie fragil Betroffene auf dem Weg der Heilung sein können.

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1 siehe den Bericht in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 12/2023 Seite M757
2 mehr zum Refeeding-Syndrom in Ausgabe 10/2023 der ERNÄHRUNGS UMSCHAU ab Seite M621
3 Zur Orthorexie-Forschung finden Sie 2 Beiträge in Ausgabe 3/2023 der ERNÄHRUNGS UMSCHAU.
4 Lesen Sie den Muskeldysmorphie-Beitrag in Ausgabe 12/2020 der ERNÄHRUNGS UMSCHAU.



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 1/2024 auf Seite M10.

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