Ernährungspolitik: Kinderernährung - Forscher warnen vor Teufelskreis der Armut in Deutschland

2,77 € – mit dieser Summe pro Tag sollen Hartz-IV-Empfänger ihre Kinder gesund und vollwertig ernähren. Das ist schlicht nicht möglich, mahnen Ernährungswissenschaftler der Fachgesellschaft Society of Nutrition and Food Science (SNFS) mit Sitz an der Universität Hohenheim in Stuttgart.

Der Hartz-IV-Regelsatz sieht für die tägliche Ernährung 2,77 € bis zum 6. Lebensjahr und 3,93 € für 6- bis 14-Jährige vor. Ernährungswissenschaftler appellieren: Erhöhung auf 4 € am Tag. © LittleElefant/iStock/Thinkstock bearbeitet von S. Jarick
Der Hartz-IV-Regelsatz sieht für die tägliche Ernährung 2,77 € bis zum 6. Lebensjahr und 3,93 € für 6- bis 14-Jährige vor. Ernährungswissenschaftler appellieren: Erhöhung auf 4 € am Tag.

In ihrer aktuellen Stellungnahme warnen sie davor, nur die Kalorien im Blick zu haben. Entscheidend sei vielmehr die ausreichende Versorgung mit allen Nährstoffen. Denn Fehlernährung im Kindesalter könne zu körperlichen und geistigen Entwicklungsstörungen führen – und diese Kinder hätten dann ein höheres Risiko, auch als Erwachsene in Armut zu leben. Die Wissenschaftler appellieren an die Politik, diesem Problem mit einem höheren Tagessatz und anderen Maßnahmen zu begegnen.

„2,77 € für Kinder bis zum 6. Lebensjahr und 3,93 € für 6- bis 14-jährige für die tägliche Ernährung im Hartz-IV-Satz liegen deutlich unter dem, was man für eine gesunde Ernährung rechnen muss“, erklärt Ernährungswissenschaftler Prof. Dr. Jan FRANK, SNFS-Präsident. Betroffen seien v. a. Kinder alleinerziehender Mütter mit Hartz IV-Bezug, also derzeit 2,1 Mio. Kinder unter 15 Jahren. Eine besondere Risikogruppe stellen außerdem Kinder aus Flüchtlingsfamilien dar, betonen die Forscher. „Diese Kinder sind oft schon seit längerer Zeit schlecht ernährt, weshalb das Augenmerk ganz besonders auch auf sie gelegt werden sollte“, mahnt FRANK an.

Folgen

Die Folgen für die Kinder sind fatal: „Es drohen Entwicklungsstörungen, die nicht nur das körperliche Wachstum, sondern auch die geistige Entwicklung betreffen“, warnt Prof. Dr. Hans Konrad BIESALSKI, Ernährungsmediziner an der Universität Hohenheim. „Denn wenn gespart werden muss, dann werden vor allem solche Lebensmittel gekauft, die preisgünstig sind, aber auch satt machen. Es gibt zahlreiche Untersuchungen dazu, dass die Qualität eines Lebensmittels, also die Menge an enthaltenen Mikronährstoffen, mit sinkendem Preis abnimmt, während der Energiegehalt zu- nimmt“, erklärt BIESALSKI. Das Kind werde damit zwar satt, nehme aber zu viel Energie und zu wenig Mikronährstoffe auf. „Es kommt zu dem, was wir als ‚double burden‘ bezeichnen: Übergewicht bei unzureichender Versorgung mit Mikronährstoffen.“

Übergewicht ist bei Kindern aus armen Verhältnissen in Deutschland dreimal häufiger anzutreffen als bei Kindern aus Familien mit gutem Einkommen. „Zudem zeigt eine Studie aus Brandenburg, dass Kinder aus armen Familien kleiner sind“, berichtet BIESALSKI. Ein Hinweis auf eine Wachstumsstörung, wie sie v. a. bei einer Ernährung mit zu wenig Mikronährstoffen zu beobachten ist.

Internationale Studien zeigen außerdem, dass Kinder aus Ländern mit hohen Einkommen, die dort in Armut leben, häufiger Entwicklungsstörungen des Gehirns haben. „Besonders betroffen sind Hirnteile, die mit der Entwicklung und dem Gebrauch von Sprache zu tun haben“, erläutert BIESALSKI. Die Einschulungsuntersuchungen des Landes Brandenburg passten in dieses Bild, erklärt der Ernährungsmediziner: „Entwicklungsstörungen der Sprache treten dort bei Kindern aus armen Familien 15-mal häufiger auf als bei Kindern in finanziell gesicherten Verhältnissen.“

Erhöhung nötig

Eine Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes sei unumgänglich, appellieren die Forscher. Denn auch Initiativen wie IN FORM gäben zwar gute Ernährungstipps, die jedoch mit 2,77 € täglich nicht umsetzbar seien. „Rund 4 € am Tag sind nötig, um eine gesunde Ernährung für Kinder unter 6 Jahren zu gewährleisten“, betont Prof. Dr. FRANK. Bei den Politikern mahnt er daher dringenden Handlungsbedarf an: „Die immer wieder geforderten Verbesserungen bei der Ernährung gerade für Kinder in Armut sind dort bisher nicht auf offene Ohren gestoßen.“ Auch Möglichkeiten wie kostenloses Essen in Kitas und Ganztagsschulen könnten einen Beitrag zur Lösung des Problems bringen, meint Prof. Dr. BIESALSKI. „Damit lernen die Kinder auch gesunde Ernährung kennen – und das Gesundheitssystem spart Kosten für die Behandlung kranker und übergewichtiger Kinder.“

Wissenschaftliche Stellungnahme der SNFS zu Kinderarmut:

-> http://snfs.org/comments/snfs-stellungnahme-kinder.html 

Quelle: Universität Hohenheim, Pressemeldung vom 15.03.2018



Die Society of Nutrition and Food Science e. V. (SNFS) ist ein 2013 gegründeter Zusammenschluss unabhängiger Experten im Bereich Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften mit Sitz an der Universität Hohenheim. Ziel der gemeinnützigen Organisation ist es, Forschung und Lehre in diesem Themenfeld voranzutreiben, wissenschaftlich fundiert Stellung zu kontroversen Themen und aktuellen Publikationen zu nehmen sowie Verbrauchern fachlich korrektes Wissen zu Ernährungsthemen zur Verfügung zu stellen.
-> www.snfs.org 



Diesen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 5/2018 auf Seite M238.

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