Junge Forschung: Effektivität und Nachhaltigkeit einer zweiwöchigen Ferienmaßnahme für übergewichtige Kinder und Jugendliche mit dem Schwerpunkt Ernährung und Bewegung

  • 15.05.2024
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  • Carolin Bischof
  • Christina Langenfeld
  • Anna Floegel
  • Luzia Valentini

Carolin Bischof*, Christina Langenfeld*, Anna Floegel+, Luzia Valentini+

Thematischer Hintergrund
Seit 1975 stieg die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas rapide an [1]. Ca. 15 % aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind von Übergewicht betroffen, 6,3 % davon sind adipös [2]. Die
World Heart Federation (WHF) und die World Obesity Federation zeigen in ihrer Übersichtsarbeit [1], ebenso wie die KiGGS-Studie [2], dass etablierte Gesundheitsrisiken und der erhebliche Anstieg der Prävalenz von Adipositas u. a. zu den großen weltweiten Gesundheitsproblemen zählen.

In dieser Studie wurden die Effektivität und Nachhaltigkeit des 4you.camps, einer zweiwöchigen Ferienfreizeit für Kinder und Jugendliche mit Übergewicht, untersucht. Die Ziele des Camps sind es, den Kindern und Jugendlichen die Basis einer gesunden Ernährung in theoretischen Workshops und praktische Fertigkeiten in der Lehrküche zu vermitteln. Zudem sollen sie durch verschiedene Sportarten und -spiele Freude an Bewegung finden und somit erste Schritte in Richtung einer langfristigen Körpergewichtsreduktion gehen. Fachkräfte aus den Bereichen Sport und Ernährung sind an dem Projekt beteiligt.
Die erste Untersuchung fand 2020 im Rahmen der Bachelorarbeit von Christina Langenfeld statt, 2021 folgte ein zweiter Durchgang im Rahmen der Bachelorarbeit von Carolin Bischof. Beide Feriencamps fanden damit während der Covid-19-Pandemie statt. Das Hauptziel des vorliegenden Projekts war es, zu untersuchen, ob das Interventionskonzept des 4you.camps als zweiwöchige Ferienfreizeit mittelfristig über 3,5 Monate dazu beitragen kann, das Körpergewicht und den Taillenumfang der Kinder und Jugendlichen mit Übergewicht zu reduzieren. Zudem wurde die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen zu Beginn des Camps und nach 3 Monaten verglichen.

Methodik
In den Ferienfreizeiten wurden insgesamt Daten von 71 Teilnehmenden im Alter von neun bis 16 Jahren erhoben (Standorte 2020: Halbe n = 17, Lindlar n = 21; Standorte 2021: Halbe n = 16, Langenscheid n = 17). Von 85,5 % der insgesamt 83 Campteilnehmenden wurden anthropometrische Daten wie Taillenumfang, Körpergewicht und -größe zu 4 Messzeitpunkten erhoben. Das Ernährungsverhalten (3-Tages-Ernährungsprotokoll), das Ernährungswissen (selbsterstellt, max. 15 Punkte) und die gesundheitsbezogene Lebensqualität (KINDL-R1, max. 100 Punkte) wurden zur Basisuntersuchung erhoben und mit Follow-up-Daten von einem und drei Monaten nach der Intervention verglichen. Der KINDL-R erfasst die gesundheitsbezogene Lebensqualität in sieben Dimensionen (Körper, Psyche, Selbstwertgefühl, Wohlbefinden in der Familie, bei Freunden und in der Schule). Während der Ferienfreizeiten füllten die Teilnehmenden die Fragebögen selbst aus, die anthropometrischen Daten wurden von den Studiendurchführenden vor Ort erhoben.
Alle Angaben im Follow-up ein bzw. drei Monate nach der Basisuntersuchung wurden von den Teilnehmenden subjektiv angegeben. Für die Messungen der anthropometrischen Daten wurden die Teilnehmenden und Eltern zuvor geschult. Von der Studiengruppe beteiligten sich 77,5 % (n = 55) an allen fünf Messzeitpunkten.
Für die Auswertung der Daten wurde die Intention-to-treat-Analyse (ITT) mittels last observation carried forward-Analyse durchgeführt [3].

Ergebnisse
Die Teilnehmenden waren 13,5 ± 1,5 Jahre alt, 60 % waren weiblich. Das Körpergewicht lag zu Beginn der Ferienfreizeit bei 83,6 ± 16,4 kg und reduzierte sich statistisch signifikant (p ≤ 0,001) auf 80,4 ± 16,1 kg drei Monate nach der Intervention. 48,6 % der Teilnehmenden lagen basal über der 97. Perzentile. Drei Monate nach Intervention lagen 34,3 % der Teilnehmenden über der 97. Perzentile des Body-Mass-Index (BMI) (• Abbildung 1).

Der Taillenumfang der Teilnehmenden reduzierte sich signifikant von 99,3 ± 12,3 cm auf 93,6 ± 11,7 cm (p ≤ 0,001) im Vergleich zum Beginn der Ferienfreizeit und drei Monate nach der Ferienfreizeit. Das Ernährungswissen nahm zwischen Beginn des Camps und einem Monat nach Campende um 1,2 ± 0,5 Punkte zu (10,5 ± 1,9 vs.11,7 ± 2,0, p ≤ 0,001).
Die tägliche Energiezufuhr verringerte sich von 2030 ± 592 kcal vor Beginn der Ferienfreizeit auf 1666 ± 585 kcal einen Monat nach der Ferienfreizeit signifikant (p ≤ 0,001). Dies ging mit einer verminderten Aufnahme aller drei Makronährstoffe einher.
Die Gesamtpunktzahl des KINDL-R lag in der vorliegenden Studie zu Beginn der Ferienfreizeit bei 64,2 ± 12,5 Punkten und am Ende der Freizeit bei 67,0 ± 13,8 Punkten (p = 0,012). Dabei steigerte sich das Selbstwertgefühl der Teilnehmenden von 46,6 ± 21,3 Punkten zu Beginn der Studie auf 55,0 ± 19,5 Punkte am Studienende (p ≤ 0,003), während sich die Ergebnisse in den anderen Dimensionen nicht veränderten.

Diskussion
Durch die Ferienfreizeiten konnten die Teilnehmenden nach drei Monaten statistisch signifikant und relevant ihr Körpergewicht und den Taillenumfang reduzieren, das Ernährungswissen verbessern und das Selbstwertgefühl steigern. Der Zeitraum der Datenerhebung war geprägt durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, die u. a. zu einer starken Einschränkung der sozialen Kontakte und Bewegungsmöglichkeiten in der Gesamtbevölkerung führten. Nach der systematischen Übersichtsarbeit und Metaanalyse von Chang et al. [4] konnte ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen Lockdown und der Körpergewichtszunahme von Kindern und Jugendlichen festgestellt werden und damit einhergehend ein Anstieg der Verbreitung der kindlichen Adipositas. Trotz dieser Belastungen war es den Teilnehmenden in der hier vorgestellten Studie gelungen, während der COVID-19-Pandemie ihr Körpergewicht zu reduzieren.
Im internationalen Raum wurde die Wirkung von Ferienfreizeiten mit dem Fokus der Körpergewichtsabnahme für Kinder und Jugendliche mit Übergewicht bereits untersucht. In einer randomisierten kontrollierten Studie von Larsen et al. [5] ergab sich ein Jahr nach der Intervention eines sechswöchigen Tagescamps, dass 23,6 % der Interventionsgruppe und 7,6 % der Kontrollgruppe Normalgewicht erreichten. Wong et al. [6] konnten zeigen, dass sich in einem zweiwöchigen Sommercamp für Kinder und Jugendliche mit Übergewicht das Selbstwertgefühl signifikant verbesserte und der BMI reduzierte.
Um die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Teilnehmenden abzubilden, wurde der KINDL-R angewandt. Die Ergebnisse der Studienteilnehmenden des 4you. camps wurden mit den Ergebnissen der KIGGS-Studie (2003–2006) „Gesundheitsbezogene Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ von Ravens-Sieberer et al. [7] verglichen. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Campteilnehmenden war insgesamt und in den einzelnen Dimensionen bei den Teilnehmenden geringer als bei Kindern der repräsentativen KIGGS-Studie [7]. Auch in einer Studie von Buttitta et al. [8] zeigte sich, dass die Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht schlechter war als die von normalgewichtigen Gleichaltrigen. In einer Studie zur Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen während der COVID-19- Pandemie gaben 70,7 % der Befragten an, dass sie sich durch die Pandemie belastet fühlten [9]. Jedoch verbesserte sich das Selbstwertgefühl der Teilnehmenden in unserer Studie statistisch signifikant trotz der Pandemieeinschränkungen.

Stärken und Limitationen
Die Limitationen der vorliegenden Arbeit sind u. a., dass es keine Kontrollgruppe gab, mit der die Ergebnisse verglichen werden konnten. Die Messung der Körpergröße, des Körpergewichts und des Taillenumfangs konnte nicht ausschließlich standardisiert erfolgen. Die Daten für die Messzeitpunkte im Follow-up basieren auf Selbstangaben der Teilnehmenden. Um die Vergleichbarkeit zwischen den Erhebungen zu gewährleisten, wurde an die Teilnehmenden und deren Eltern eine ausführliche Anleitung per E-Mail verschickt. Bei der Auswertung der Ernährungsprotokolle kann es zu einem Underreporting von nicht erwünschtem Essverhalten bzw. Overreporting von erwünschtem Essverhalten der Teilnehmenden vor und nach der Ferienfreizeit gekommen sein.
Die Motivation der Teilnehmenden und deren Eltern für die Studie war sehr hoch. Obwohl es sich um eine Kurzzeitstudie handelte, ist positiv hervorzuheben, dass nicht nur der Interventionszeitraum von zwei Wochen betrachtet wurde, sondern Daten bis zu drei Monate nach der Intervention im Alltag der Studienteilnehmenden einbezogen wurden.
Bei der Ferienfreizeit 4you.camp handelt es sich um ein bestehendes Angebot, welches nicht eigens für die Studien konzipiert wurde, sondern in seiner jährlich in den Sommermonaten durchgeführten Form auf Nachhaltigkeit und Effektivität evaluiert wurde. Das Konzept beinhaltet keine Nachbetreuung, da die Teilnehmenden aus ganz Deutschland am Camp teilnehmen können und eine weitere Betreuung im ambulanten, nicht digitalen Bereich schwierig ist, zumal das Campteam nur für die Dauer des Camps im 4you.camp beschäftigt ist. Somit konnte keine längerfristige Nachhaltigkeit über 3 Monate hinaus verfolgt werden.

Schlussfolgerung
Zusammengefasst hatte die zweiwöchige Ferienfreizeit des 4you.camps trotz Durchführung während der COVID-19-Pandemie eine effektive und nachhaltige Wirkung auf die Reduktion des Körpergewichts und der Energiezufuhr sowie auf die Erhöhung des Selbstwertgefühls der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen.

Danksagung
Wir möchten uns ganz herzlich bei Heike Böhm, Gründerin und Leiterin des 4you.camps, für die Möglichkeit bedanken, diese beiden Studien in ihrer Ferienfreizeit durchgeführt haben zu können.
Außerdem möchten wir uns ganz herzlich bei Frau Dr. Breitenbach für die Betreuung einer der beiden Bachelorarbeiten bedanken.

__________________
* zu gleichen Teilen beigetragen
+ zu gleichen Teilen beigetragen
1 Gesundheitsfragebogen – Kind im Alter von 11 bis 13 Jahren aus der KiGGS Basiserhebung 2003–2006
www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Kiggs/Basiserhebung/FBAnforderung/FBAnforderung_node.html 



Angabe zu Interessenkonflikten und zum Einsatz von KI
Die Autorinnen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht und bei der Erstellung des Manuskripts keine KI-Anwendungen eingesetzt wurden.


 



Carolin Bischof, B.Sc.1
Christina Langenfeld, B.Sc.2
Prof. Dr. Anna Floegel3
Prof. Dr. Luzia Valentini4

Studiengang Diätetik, Fachbereich Agrarwirtschaft und Lebensmittelwissenschaften
Hochschule Neubrandenburg
1 bischof.carolin@web.de
2 christina.langenfeld@outlook.com
3 floegel@hs-nb.de
4 valentini@hs-nb.de


 

 

Abb. 1: Verteilung der BMI-Perzentilen der Kinder und Jugendlichen zu Beginn und nach ihrer Teilnahme am zweiwöchigen 4you.camp zur Körpergewichtsreduktion P = Perzentile

Literatur

  1. Lopez-Jimenez F, et al.: Obesity and cardiovascular disease: mechanistic insights and management strategies. A joint position paper by the World Heart Federation and World Obesity Federation. Eur J Prev Cardiol 2022; 29(17): 2218–37.
  2. Schienkiewitz A, Brettschneider A-K, Damerow S, Schaffrath Rosario A: Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Journal of Health Monitoring 2018; 3(1): 16–23.
  3. Kleist P: Das Intention-to-Treat-Prinzip. Swiss Medical Forum - Schweizerisches Medizin-Forum 2009; 9(25): 450–3.
  4. Chang TH, Chen YC, Chen WY, et al.: Weight gain associated with COVID-19 lockdown in children and adolescents: a systematic review and meta-analysis. Nutrients 2021; 13(10): 3668.
  5. Larsen KT, Huang T, Ried-Larsen M, Andersen LB, Heidemann M, Møller NC: A multi-component day-camp weight-loss program is effective in reducing BMI in children after one year: a randomized controlled trial. PLoS One 2016; 11(6): e0157182-e.
  6. Wong WW, Abrams SH, Mikhail C, et al.: An innovative summer camp program improves weight and self-esteem in obese children. J Pediatr Gastroenterol Nutr 2009; 49(4): 493–7.
  7. Ravens-Sieberer U, Ellert U, Erhart M: Gesundheitsbezogene Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2007; 50(5): 810–8.
  8. Buttitta M, Iliescu C, Rousseau A, Guerrien A: Quality of life in overweight and obese children and adolescents: a literature review. Qual Life Res 2014; 23(4): 1117–39.
  9. Ravens-Sieberer U, Kaman A, Erhart M, Devine J, Schlack R, Otto C: Impact of the COVID- 19 pandemic on quality of life and mental health in children and adolescents in Germany. Eur Child Adolesc Psychiatry 2022: 31(6): 879–89.


Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 5/2024 auf den Seiten M260 bis M261.

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