Lebensmittelunverträglichkeiten: Selbsttests auf Lebensmittelunverträglichkeiten nicht empfehlenswert

  • 15.06.2016
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  • Redaktion
  • Dr. Sabine Schmidt

Sie heißen Allergie-Check, Lebensmittel-Reaktionstest, Lebensmittelunverträglichkeitstest oder ähnlich und werden als Selbsttest auf Lebensmittelunverträglichkeiten für Zuhause angeboten – ganz praktisch, „ohne Arzt“. Ein durch einen kleinen Stich in den Finger gewonnener Blutstropfen wird dazu auf einen Teststreifen aufgetragen, dieser ins Labor der Anbieterfirma geschickt, um anschließend Informationen dazu zu erhalten, welche Lebensmittel man „nicht verträgt“ und meiden sollte – nach dem Motto „gesund heißt noch lange nicht verträglich“.

Tests dieser Art, die von verschiedenen Firmen für die häusliche Selbstdiagnose meist im Internet angeboten werden, basieren auf dem Nachweis von IgG/IgG4-Antikörpern und testen eben nicht auf Allergien, sondern auf sog. „Unverträglichkeiten“, exakter bezeichnet als „nicht-allergische Hypersensitivität“ [1]. Gleich in mehreren Aspekten widersprechen solche Tests dem aktuellen wissenschaftlichen Stand der Medizin und Ernährungswissenschaft:

1. Der Nachweis von Lebensmittelunverträglichkeiten durch IgG/IgG4-Antikörper ist wissenschaftlich höchst umstritten. Die gültige Leitlinie zu IgG-Testungen mehrerer allergologischer Fachgesellschaften [2] bezieht dazu deutlich Stellung: „IgG4-Antikörper gegen Nahrungsmittel sind nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht als Indikator für krank machende Vorgänge misszuverstehen, sondern Ausdruck der natürlichen (physiologischen) Immunantwort des Menschen nach wiederholtem Kontakt mit Nahrungsmittelbestandteilen. […] Für keine der genannten Erkrankungen oder Gesundheitsstörungen liegen gesicherte Hinweise in Form kontrollierter, aussagekräftiger Studien vor, dass ein Nachweis von Serum-IgG- oder -IgG4-Antikörpern gegen Nahrungsmittel einen diagnostischen oder pathologischen Wert besitzt. Die IgG-Antikörpertests sind demzufolge weniger aufgrund potenzieller technischer Mängel, sondern wegen der irreführenden Interpretation von Testergebnissen abzulehnen [...].“

2. Die Diagnose einer Lebensmittelallergie basiert auf einem Beschwerdebild, welches durch einen IgE-Bluttest und eine anschließende prüfende Eliminationsdiät unter Auslassung jeweils einzelner Lebensmittel überprüft wird. Nicht-allergische Hypersensitivitäten können nach heutigem Kenntnisstand nicht mit einem Bluttest verifiziert werden, sondern erfordern eine gründliche Anamnese eines erfahrenen Allergologen, verbunden mit einer optimalerweise durch eine ernährungstherapeutische Fachkraft betreuten Eliminationsdiät, in der zeitweise zu diagnostischen Zwecken auf mögliche Auslöser der Unverträglichkeit verzichtet wird, mit nachfolgendem Provokationstest [1]. Ernährungstherapeuten fordern seit Jahren eine diesbezüglich enge Verzahnung der Tätigkeiten von Allergologen und Ernährungsfachkräften in Diagnose und Therapie.

Selbsttests für Zuhause, in denen gleichsam blind auf über 60–80 Lebensmittel getestet wird, wirken aus Sicht der Fachleute kontraproduktiv, da die Ergebnisse oft eine Reihe von Lebensmitteln identifizieren, auf die der Patient gar nicht unbedingt reagieren muss. Pauschal sollen diese Lebensmittel gemieden werden, ohne eine tatsächliche Reaktion einzeln (in Form einer Eliminationsdiät mit anschließendem Provokationstest) zu überprüfen. So kann es vorkommen, dass ein Patient mit Darmbeschwerden auf Weizen, Roggen, Ei, Banane, Kiwi, Milchprodukte und Schweinefleisch verzichten soll – eine groteske, weil wahrscheinlich unnötige und einschneidende Beschränkung der Lebensmittelauswahl. Dr. Imke Reese, Mitautorin mehrerer allergologischer Leitlinien und erfahrene Ernährungstherapeutin mit Schwerpunkt Allergologie, stellt dazu fest: „Ein ungezieltes Screening ohne begründeten Verdacht auf eine Lebensmittelallergie wird ausdrücklich nicht empfohlen! Ein solches Vorgehen wirft in der Regel mehr Fragen als Antworten auf, weil positive Befunde (Sensibilisierungen) immer auf klinische Relevanz überprüft werden müssen.“ [3]



(scs) Die wissenschaftliche Einschätzung des Nutzens von IgG-Tests und der Trend zur Selbstdiagnose von Erkrankungen zuhause ohne medizinische Fachkompetenz kümmert die Anbieterfirmen wenig. Im Online-Auftritt eines neu auf den Markt gekommenen Anbieters werden immerhin zwei Studien mit gegenteiligen Ergebnissen zur Stützung der IgG-Diagnostik aufgeführt, dazu die vielen positiven Erfahrungen der beteiligten Ärzte und Labore mit zufriedenen Patienten. Diese mag es auch geben, denn wenn man pauschal eine Reihe von Lebensmitteln weglässt und damit bewusster isst, lassen Beschwerden schon deshalb zum Teil nach, v. a. wenn es sich eigentlich um ein Reizdarmsyndrom handelt. Nur wäre die Beschränkung gerade dieser Lebensmittel eben vermutlich gar nicht notwendig. Mit dem Werbespruch „Viele Menschen leiden ohne es zu wissen an Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Intoleranzen“ werden Menschen zu potenziellen Patienten gemacht – wenn ich es gar nicht weiß, dass ich schon leide, dann erfahre ich es spätestens durch diesen Test. Und die Unternehmen gewinnen zukünftige zahlende Kunden, die ihre „Gesundheit weiter optimieren“ sollen – ganz im Trend der Körperoptimierung und des Self-Tracking.



Literatur:
1. Constien A, Reese I (2007) Lebensmittelallergien. Grundlagen, Diagnose, Therapie. Ernährungs Umschau 54(3): 146–153
2. Kleine-Tebbe J, Reese I, Ballmer- Weber B et al. (2009) Keine Empfehlung für IgG- und IgG4-Bestimmungen gegen Nahrungsmittel. Allergo J 18: 267–273
3. Reese I (2016) Update Lebensmittelallergien. => S. M338-M346 in diesem Heft.

=> Lesen Sie hierzu auch „Zu guter Letzt“ in diesem Heft auf S. M372.



Den Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 06/16 auf Seite M324.

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