20. Heidelberger Ernährungsforum: Essbiografie. Warum wir essen wie wir essen.
- 15.11.2016
- Print-News
- Dr. Sabine Schmidt
Welche Erfahrungen bringen uns dazu, bestimmte, für uns typische Essentscheidungen zu treffen? Und können wir die Art, wie wir entscheiden, im Hier und Heute verändern, wenn wir das möchten? Diese Frage beschäftigte die ca. 100 Teilnehmenden des 20. Heidelberger Ernährungsforums vom 28.–29. September 2016 der Dr. Rainer Wild-Stiftung in Heidelberg.
Mitverantwortlich für die Inhalte der Tagung waren neben der Stiftung Prof. Dr. Christine BROMBACH von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) und Dr. Ute ZOCHER, selbstständig tätige Erziehungswissenschaftlerin, die ein vielversprechendes Programm zusammengestellt hatten.
Nach einer Begrüßung durch die neue Geschäftsführerin der Dr. Rainer Wild-Stiftung Dr. Monika WILHELM und die neue wissenschaftliche Leiterin Dr. Svenja STEIN führte Dr. Ute ZOCHER ins Thema ein. Sie verglich die Biografie des Menschen mit einem gewebten Teppich: Jeder Mensch mit seinen individuell unterschiedlichen Anlagen befindet sich in ständigem Austausch mit seiner Umwelt. Während seines Lebenslaufs ist er Teil ganz spezieller Ereignisse und Erlebnisse – biografische Erfahrungen, die nur er auf diese Art macht. Diese werden von ihm auf seine eigene, wiederum von seiner Gefühls- und Gedankenwelt geprägten Art bewertet und gedeutet. Aus dieser Vielzahl an Erlebnissen und den Deutungen dieser entsteht Faden für Faden ein einzigartiges Webwerk mit individuell verschiedenem Muster und eigenen, „subjektiven Theorien“ über sich selbst und die Umwelt oder bspw. Ernährungweisen. Die Art, wie wir essen und wie wir essen wollen, ist biografisch entstanden und damit Teil dieses Musters, auch hierzu haben wir teils unbewusste subjektive Deutungen. Diese hängen darüber hinaus eng mit unseren subjektiven Theorien zu Leistung, Gesundheit und Lifestyle zusammen.
Anhand dieser Beschreibung individuellen Essverhaltens als Bestandteil des eigenen „biografischen Webwerks“ wurde eines schnell deutlich: Menschen mit gesundheitlich motivierten Vorgaben zu einer rational gesteuerten „Norm-Ernährung“ zu veranlassen, widerspricht der Vielfalt an persönlichen und situationsbezogenen Essmotiven. Zu komplex ist das System der Essentscheidungen, zu individuell und zu stark verwurzelt in den eigenen Lebenserfahrungen und Deutungsmustern. Eine „Zulassung“ oder „Duldung“ nur einiger individueller Vorlieben, wie es sich Ernährungsempfehlungen auf die Fahnen schreiben, greift in diesem System viel zu kurz.
Durch die „Brille“ der Biografiearbeit wird weiterhin nachvollziehbar, dass das situationsspezifische Verhalten des Menschen aus seiner eigenen Deutung heraus immer sinnvoll ist, d. h. einen Lösungsversuch für die Bewältigung der aktuellen Situation darstellt, auch wenn es aus dem Blickwinkel gesundheitlicher Parameter betrachtet kontraproduktiv erscheint. ZOCHER zitierte Dieter BAACKE, dass Biografieforschung dazu beitrage, „Gründe für menschliches Verhalten zu finden, wonach zumindest subjektiv genau das zu tun war, was getan wurde“.
Deutlich wurde der Aspekt dieses „Eigensinns“ menschlicher Verhaltensweisen auch im Vortrag von Prof. Michael MACHT, Universität Würzburg, der über Auswirkungen traumatischer Erlebnisse auf das Essverhalten berichtete. Er zeigte anhand wissenschaftlicher Studien, dass erfahrener sexueller Missbrauch das Risiko für die Entwicklung von Essstörungen (vorwiegend Bulimie und Binge-Eating) erhöht. Vertiefend stellte er ein Fallbeispiel einer jungen Frau mit sexuellen Missbrauchserfahrungen vor, die abendliche emotionale Flashbacks nur mit extremen Essattacken in den Griff bekam. Die Essattacken seien zwar für ihre Nahrungsaufnahme und ihren Gesundheitszustand kritisch, jedoch für sie bisher die einzige Art gewesen, mit den nicht auszuhaltenden emotionalen Krisen, die dem Trauma folgten, fertig zu werden. In einer über ein Jahr dauernden Psychotherapie wären diese Zusammenhänge schließlich erfolgreich bearbeitet worden.
In weiteren Vorträgen, u. a. von Prof. Christine BROMBACH, wurde der biografische Blickwinkel noch spezifischer anhand der Ernährungssituation in verschiedenen Lebensaltern und der Veränderung der Ernährungswelt in den letzten Jahrzehnten vertieft.
Welche Rolle die Essbiografie der Bewohner für das Verpflegungsangebot in Senioreneinrichtungen spielt und welche ungeahnten Möglichkeiten man als engagierter Küchenleiter unter Berücksichtigung dieser hat, führte Markus BIEDERMANN, Eidg. Dipl. Küchenchef und Diplom- Gerontologe, den Teilnehmenden in einem mitreißenden Vortrag vor Augen.
Die Tagung regte zu mindestens zwei Schlussfolgerungen an:
1. In der Beratung gilt es, den Fokus noch weiter auf den Klienten als Experten für sein Leben und sein Verhalten zu verschieben, ihm und seinem Verhalten wertschätzend statt abwertend entgegenzutreten („das Ende von falsch und richtig“), seine tatsächlichen Wünsche und Möglichkeiten, eigenes Verhalten zu ändern, herauszufinden sowie seine Ressourcen für die gewünschten Änderungen zu entdecken und zu nutzen.
2. Für die Förderung von Gesundheit aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive sind Maßnahmen der Verhältnisprävention den schon bisher meist gescheiterten Versuchen zur allgemeinen Verhaltensänderung weit überlegen, da die Verhältnisse, in denen Menschen aufwachsen und leben, maßgeblich am „Teppich“ ihres Deutungs- und Handlungsmusters mit„weben“.
Fazit: Wieder einmal eine sehr aufschlussreiche Tagung der Dr. Rainer Wild-Stiftung, aus der die Teilnehmenden sehr viel Input mitnehmen konnten. Ansätze aus der Biografiearbeit sollten zukünftig in jeder Beratungstätigkeit im Ernährungsbereich berücksichtigt werden.
Diesen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 11/16 auf Seite M629.