6. Tagung der ERNÄHRUNGS UMSCHAU: Psyche – Bewusst ins Unbewusste. Beratungspraxis und Fallbeispiele

(jmt) Die diesjährige Tagung der ERNÄHRUNGS UMSCHAU konnte endlich wieder in Präsenz stattfinden: 140 Teilnehmer*innen kamen am 13. Oktober 2023 ins Haus am Dom nach Frankfurt am Main. Mit einem Mix aus Impulsvorträgen, Coaching und interaktiven Sequenzen boten wir praxisorientierte Lernformen. In Stationen-Talks hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich direkt mit den Referent*innen und weiteren Expert*innen zu beraten und zu vernetzen. Für Austausch und Kompetenzerweiterung, persönliche Weiterentwicklung mit dem Resultat langfristig nachhaltiger Beratungsprozesse.

Ernährungsberatung – es geht um so viel mehr als das Ernährungsproblem
Im ersten Vortrag ging Prof. Katja Kröller, Hochschule Anhalt, auf die Wirkung von individuellen Erfahrungen, Glaubenssätzen und Widerständen der Klienten*innen sowie der Beratungsfachkräfte ein. Sie sensibilisierte die Teilnehmenden für den Einfluss dieser häufig, in jedem von uns vorhandenen, unbewussten Anteile und arbeitete anwendbare Ansatzpunkte heraus, um diesen z. T. unbewussten, emotionalen Abwehrreaktionen zu begegnen – also den*die Klient*in da abzuholen, wo er*sie gerade ist.
Frau Kröller zeigte, dass Beratungssituationen häufig mit (unbewussten) Abwehrreaktionen der Klienten*innen einhergehen, z. B. da sich diese auf dem Prüfstand fühlen. Gründe für emotionale Abwehr gibt es viele. Es ist jedoch für den Beratungserfolg nicht entscheidend, diese zu analysieren. Trotzdem kann die Beratungsfachkraft allein durch die Kenntnis der Zusammenhänge, einer entsprechenden Aufmerksamkeit sowie unterstützender Gesprächsansätze manche Missverständnisse vermeiden oder aufkommende Probleme positiv beeinflussen: Ein erster Schritt ist die Selbstreflektion der Beratenden. So ließen sich laut Kröller evtl. problematische Beratungssituationen schon durch die Wahrnehmung eigener Verstimmungen, Widerstände usw. besser erkennen. Im zweiten Schritt können vorbeugende Maßnahmen – jeweils individuell abgewogen – mögliche abwehrende Emotionen verhindern. So sollten statt Ratschlägen lieber grundlegende Zusammenhänge einfach und kurz vermittelt, die entsprechende Ableitung auf das eigene Essverhalten aber von den Klient*innen selbst gezogen werden. Der dritte Schritt umfasst Antworten auf eine mögliche Abwehrhaltung. So können bspw. das direkte Ansprechen der gemachten Wahrnehmung (als emotionaler Spiegel) oder offene Fragen im betreffenden Bereich helfen, dass die Klient*innen sich der jeweiligen Gefühle bewusst werden.

Emotionen in der ernährungspsychologischen Beratung
Anja Schneider, Foodcoaching Kopfsache, nahm uns mit auf eine Reise in unser Innerstes. Dieser Zugang zu uns selbst wird durch Emotionen und Gefühle ermöglicht. Emotionen beeinflussen das Essverhalten und umgekehrt: Wer z. B. wütend oder traurig ist, hat oft keinen Appetit. Emotionale Reaktionen benötigen kein Denken, sie sind unbewusst, bedürfnisorientiert und können unterdrückt werden. Nicht zugelassene, nicht gelebte und gespürte Emotionen sind oft der Schlüssel zur Seele des Menschen. Gelingt es den Klient*innen im Laufe der Beratung, verloren gegangene Gefühle und Emotionen wieder wahrzunehmen und zu spüren, ist dies der Start in eine nachhaltig erfolgreiche Verhaltensänderung. Die Beratungsfachkraft kann dem*der Klient*in helfen, zu übersetzen was dieser*diese spürt. In ernährungspsychologischen Beratungen sind demnach nicht Techniken entscheidend, sondern tiefenpsychologisches Verständnis und Methoden sowie pädagogische Herangehensweisen.

Milieubezogene Beratung als Möglichkeit zur Veränderung von Ernährungspraktiken: ein Diskussionsbeitrag
In der Ernährungsberatung kann die Nutzung verschiedener Modelle wie die der Sinus-Milieus und Ess-Typen sinnvoll sein, um typgerechte Beratungsstrategien abzuleiten und gesündere Ernährungsgewohnheiten zu etablieren, die zum jeweiligen Lebensstil passen. Wolfram Trautmann, Hochschule Fulda, stellte das Sinus-Modell vor, das die Bevölkerung basierend auf Gemeinsamkeiten in Lebensstilen, Werten, Einstellungen und im Konsumverhalten in verschiedene soziale Milieus aufteilt. Die Identifizierung von Ess-Typen wiederum hilft dabei, die Ernährungseinstellungen und das Ernährungsverhalten einer Person besser zu verstehen und entsprechende Empfehlungen zu geben. Die Herausforderung besteht laut Trautmann nun darin, die Erkenntnisse der Milieuforschung mit den Vorlieben verschiedener Ess-Typen zu verknüpfen.
Er betonte weiterhin, dass bei Beratenden ein hoher Leistungsdruck dahingehend bestehe, das Essverhalten der Klient*innen langfristig zu verändern. Doch die Verantwortung für den Beratungserfolg obliege allein dem Klienten bzw. der Klientin. Der Wunsch nach Veränderung muss von innen heraus kommen. Die Beratungsfachkraft kann lediglich ermutigen und unterstützen.

Begleiten und Bestärken: Systemische Beratung
Heike Bornemann, Institut für systemorientiertes Gesundheitsmanagement (isogm), stellte den Teilnehmenden die systemische Beratung im Kontext einer erfolgreichen Ernährungsberatung vor. In einer mehrperspektivischen Begleitung von Veränderungsprozessen kann so den Klient*innen ermöglicht werden, selbstbestimmt individuelle Ressourcen und Lösungen für das als problematisch empfundene Ernährungsverhalten zu finden. In der systemischen Ernährungsberatung begleiten die Berater*innen den Prozess mit einer neutralen Haltung – ohne Ratschläge zu geben, die implizieren etwas „besser zu wissen, was richtig ist“.

Herausforderungen in der Ernährungsberatung: Grenzbereiche erkennen und souverän damit umgehen können
Im Anschluss an die Stationen-Talks wurden die Teilnehmenden von Dipl. Psych. Julia Kugler, mit einem Coaching in der Weiterentwicklung ihrer persönlichen Beratungskompetenz unterstützt. Sie arbeitete die Grenzbereiche der Ernährungsberatung – also wo der Kompetenzbereich der Ernährungsberatung endet und wo das psychotherapeutische Arbeitsfeld beginnt – heraus und gab Tipps, um kritische Situationen souverän zu bewältigen. Dabei betonte sie, dass die Beratungsfachkraft stets handlungsfähig ist, indem sie kritische Situationen offen anspricht, offene Fragen stellt oder/und Situationen ggf. unter- bzw. abbricht. Um eine selbstbewusste Position beziehen zu können, hilft es, die Balance aus „Haltung und Enthaltung“ zu finden. Einerseits wird eine Haltung gebraucht, mit der die Beratungsfachkraft kompetent Respekt, Nähe und Empathie zeigen kann, andererseits wird eine Form der Enthaltung benötigt, um die notwendige Distanz zu den Klient*innen zu wahren, damit seriöse Arbeit geleistet werden kann.

Wir bedanken uns bei allen Teilnehmer*innen für ihr Mitwirken und freuen uns auf die kommende Tagung 2025. 



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 11/2023 auf Seite M660.

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