Infolge des Ukraine-Krieges droht eine weitere Verschärfung der globalen Ernährungskrise. © kasto80/iStock/Getty Images Plus

Ernährungspolitik: Weltweite Krise am Esstisch

  • 13.04.2022
  • News
  • Anna Sidorenko

Bewaffnete Konflikte und Hunger sind eng miteinander verbunden. Infolge des Ukraine-Krieges droht eine weitere Verschärfung der globalen Ernährungskrise. Internationale Hilfsorganisationen und die EU-Kommission warnen vor einer Zunahme des weltweiten Hungers. Auch in Europa zeigt sich, dass unsere Ernährungssysteme von den Folgen des Ukraine-Krieges nicht verschont bleiben. In einem Beitrag für Slow Food International stellt Carlo Petrini, Soziologe und Slow Food-Gründer, globale Zusammenhänge der Lebensmittelversorgung und Getreideversorgung infolge des aktuellen Krieges vor. Er führt aus, wie wir in einer eng vernetzten, globalisierten (Ernährungs-)Welt nun mit den Auswirkungen des sogenannten „Schmetterlingseffekts“ konfrontiert sind.

Im Nahen Osten, vielen afrikanischen Staaten und auch in Europa zeigen sich bereits jetzt – fünf Wochen nach der Invasion russischer Truppen in der Ukraine – zahlreiche direkte und indirekte negative Auswirkungen auf die Nahrungsmittelversorgung und Lebensmittelpreise. Laut der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) könnten die Lebensmittelpreise weltweit um 20 % steigen. Darüber hinaus werde der Krieg zu einem erheblichen Rückgang der Verfügbarkeit von Weizen für zahlreiche afrikanische Länder führen, die einen Großteil ihres Weizens aus Russland oder der Ukraine importieren.

Die in Entwicklungsländern ohnehin schon desolate Ernährungssituation spitzt sich durch die Nahrungsmittelabhängigkeit von der Ukraine weiter zu. In Ländern, die bereits vor dem Russland-Ukraine-Krieg, unter Lebensmittelknappheit litten, wird der „Schmetterlingseffekt“ laut Petrini die desolate Lage sehr wahrscheinlich weiter verschärfen.

Der meteorologisch geprägte Begriff, begründet durch den US-amerikanischen Meteorologen Edward Lorenz, beschreibt einen Effekt, der angestoßen durch (sogar kleinste) Veränderungen in den Ausgangsbedingungen, zu (weitreichenden) langfristigen und unvorhersehbaren Folgen im gesamten System führen kann [1]. Der Ukraine-Krieg, zunächst auf ein bestimmtes geografisches Gebiet begrenzt, zieht nun – wie eine Kettenreaktion – schwere (Ernährungs-)Krisen in weit entfernten Teilen der Erde nach sich. Diese empfindliche Abhängigkeit in Systemen zeichnet sich laut Petrini in globalen Ernährungssystemen ab:

Die Ukraine und Russland zählen global zu den Haupterzeugern und führenden Exporteuren für Weizen. Rund 90 % der Lebensmittelversorgung im Jemen werden durch Importe gedeckt; die Hälfte der Getreidezufuhr stammt aus Russland und der Ukraine. Der Krieg in der Ukraine wird für die etwa 15 Millionen EinwohnerInnen die Lage weiter verschlechtern. Ägypten, war lange Zeit ein führender Erzeuger von Getreide. Heute deckt das Land aufgrund zunehmender Versteppung und Urbanisierung 80 % seines Nahrungsmittelbedarfs durch Importe aus der Ukraine. Vor dem Hintergrund, dass Brot in Ägypten schon immer ein politisch umkämpftes Gut war, droht der eskalierende Konflikt in der Ukraine, der ein Anstieg der Getreidepreise mit sich zieht, Brotunruhen und wirtschaftliche Instabilität in Ägypten auszulösen, so Petrini. In Kenia, zu dessen wichtigsten Lieferanten Russland zählt, steigen die Preise für Düngemittel extrem. Aufgrund der steigenden Preise sind Kenias Kleinbauern gezwungen weniger Düngemittel einzusetzen, erklärt Petrini. Die Folge: schlechtere Erträge und ungenügendes Einkommen. In Westafrika leiden bereits mehr als 27 Millionen Menschen an Hunger, weitere elf Millionen Menschen könnten bis Juni 2022 hinzukommen. Dies seien nach Angaben von Hilfsorganisationen ein Drittel mehr hungernde Menschen als im Vorjahr. Auch Europa bleibt nicht verschont: Die Versorgungsknappheit und steigende Lebensmittelpreise bekommen VerbraucherInnen hierzulande bereits beim Kauf einer Reihe von Lebensmitteln zu spüren, aktuell vor allem beim Speiseöl oder Weizenmehl. Der Deutsche Bauernverband warnte bereits im letzten Jahr vor höheren Getreidepreisen. Die Preise seien bereits im Herbst 2021 nach den Corona-Lockdowns stark gestiegen; dieser Trend setze sich nun infolge des Ukraine-Kriegs fort.

In der Europäischen Union ist die Ukraine der viertgrößte Lebensmittellieferant, erklärt Petrini in seinem Beitrag für Slow Food. Etwa 40 % der Gasimporte, die zum Betreiben von Gewächshäusern benötigt werden, stammen aus Russland. Rund die Hälfte des von uns konsumierten Gemüses wird in den durch russisches Gas beheizten Gewächshäusern angebaut. Folglich kann es durch den Anstieg der Gaspreise nicht nur zu einer Preissteigerung bei Lebensmitteln kommen, sondern auch zum Ausfall landwirtschaftlicher Betriebe, was wiederum in einer Versorgungsknappheit münden kann, stellt Petrini fest.

In einer eng vernetzten Welt sind wir gezwungen, uns mit den negativen Auswirkungen des Schmetterlingseffekts auseinanderzusetzen, hält Petrini fest. So zeige dieser Krieg, einmal mehr die Anfälligkeit und Ungerechtigkeit eines globalisierten Lebensmittelsystems. Er betont, dass Nahrung jedoch niemals eine Waffe sein dürfe, allerdings oft dazu missbraucht werde, das durch Krieg verursachte Elend noch zu vergrößern. „Als Werkzeug darf Nahrung zu jeder Zeit und an jedem Ort nur einem Ziel dienen: dem Frieden“, so Petrini.

Bereits in Ausgabe 7/2019 widmete sich die ERNÄHRUNGS UMSCHAU in meheren Beiträgen dem Thema Welternährung und dem Teufelskreis von Konflikt, Migration und Hunger.


Literatur:
[1] Lorenz, Edward. N. (1963). Deterministic Nonperiodic Flow, Journal of Atmospheric Sciences, 20(2), 130-14. DOI: 2.0.CO;2">https://doi.org/10.1175/1520-0469(1963)020<0130:DNF>2.0.CO;2

Quellen:
- Slow Food: Weltweite Krise: Wie der Schmetterlingseffekt am Esstisch spürbar wird. Pressemeldung vom 15.03.2022'
- ZDFheute: Lebensmittelpreise steigen - Ukraine-Krieg verschärft Hungerkrise. Pressemitteilung vom 05.04.2022
- Redaktionsnetzwerk Deutschland: Krieg in der Ukraine: Warum droht eine weltweite Hungerskrise?
Pressemeldung vom 03.03.2022

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