Auf 29 Seiten hat der Bürgerrat "Ernährung im Wandel" seine Empfehlungen an den Deutschen Bundestag zusammengestellt. Grafik: © BMEL

Ernährungspolitik: Von Lob bis Schnappatmung. Gemischte Reaktionen auf Empfehlungen des Bürgerrats Ernährung.

  • 16.01.2024
  • News
  • Dr. Udo Maid-Kohnert

Der vom Deutschen Bundestag eingesetzte Bürgerrat "Ernährung im Wandel" mit 160 Teilnehmenden aus ganz Deutschland hat am 14.1.2024 seine Empfehlungen veröffentlicht [1]. Dass die Empfehlungen durchaus Brisanz haben, zeigt das Spektrum der Reaktionen.

Der vom Deutschen Bundestag eingesetzte Bürgerrat Ernährung mit 160 Teilnehmenden aus ganz Deutschland hat am 14.1.2024 seine Empfehlungen veröffentlicht [1]. Für den Bürgerrat Ernährung des Bundestags wurden 160 Teilnehmende ausgelost, um die gesamte Gesellschaft abzubilden. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) war bei der Zusammensetzung des Gremiums und dessen Arbeit nicht eingebunden.
Zu den neun Empfehlungen des Bürgerrats gehören u. a.

  • ein kostenfreies Mittagessen für alle Kinder,
  • die verpflichtende Weitergabe von nicht verkauften Nahrungsmitteln durch den Lebensmittelhandel,
  • eine insgesamt logischere Regelung der Umsatzsteuer auf Lebensmittel und
  • eine Verbrauchsabgabe für mehr Tierwohl.

Die Empfehlungen sollen nun im Bundestag diskutiert werden.

Kommentar von Redaktionsleiter Udo Maid-Kohnert

„Laute“ Ernährungsthemen haben gerade große mediale Präsenz: Zwischen den Bauernprotesten und dem Beginn der Grünen Woche in Berlin hätte die eher geräuschlose Arbeit des Bürgerrats Ernährung daher schnell untergehen können. Dass die Empfehlungen aber durchaus Brisanz haben, zeigt das Spektrum der Reaktionen:

„Die Forderungen des Bürgerrats sind eine gute Mischung aus schnell umsetzbaren Maßnahmen und mittelfristigen Strategien.“ Dr. Ophelia Nick., parlamentarische Staatssekretärin im BMEL [2].

Noch vor der Pressemeldung des zuständigen Ministeriums meldete sich der Lebensmittelverband Deutschland e. V. (BLL) in einer Pressemeldung [3] zu Wort: „Empfehlungen des Bürgerrates Ernährung sind realitätsfern“ war noch noch die zahmste Passage des Textes (s. u.).

Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) resümierten [4]: „Die Empfehlungen des Bürgerrates sind eindeutig und zeigen, was die Menschen in unserem Land wirklich wollen.“

Was von den Vorschlägen des Bürgerrats im sich nun anschließenden parlamentarischen Prozess umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Dass aber ausgerechnet der Lobbyverband der Lebensmittelwirtschaft verbal gleich mehrmals entgleist, macht nachdenklich:
„Eine weitere staatlich eingesetzte Kommission hat erneut politische Binsenweisheiten erarbeitet“, „Ergebnisse des sogenannten Bürgerrates entstammen der ernährungspolitischen Mottenkiste“, so das wording der Pressemeldung.

Auch eine fragwürdige Einstellung zu neuen Prozessen gesellschaftlicher Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen wird in der Pressemeldung deutlich:
„Mit repräsentativen demokratischen Prozessen hatte das wenig zu tun. Die Empfehlungen des Bürgerrates haben jedenfalls keinerlei Wert und Bedeutung für Produzenten… [ ].“
Frage: Wenn´s doch keine Bedeutung hat, warum dann die äußerst eilige Pressemeldung?

Zur Erinnerung: In ihrem Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP vereinbart, neue Formen des Bürgerdialogs zu nutzen, zum Beispiel Bürgerräte. Bislang wurden in Deutschland 9 bundesweite Bürgerräte etabliert (u. a. zur Verkehrswende, zu Klima, zu Deutschlands Rolle in der Welt), auf Länder- und kommunaler Ebene sind es ungleich mehr. Das Verfahren zur Zusammenstellung dieser Gremien ist gut dokumentiert [5].

Das Prinzip der Bürgerräte hat international bereits Lösungsansätze für Konflikte zum Laufen gebracht, die weder Profi-Politikern allein, noch gut bezahlten Lobbyisten gelangen (z. B. zum Thema Geschlechtergerechtigkeit). Bürgerräte gelten als „eine Gelegenheit, Lösungen für unlösbare Probleme anzubieten“ [6].

Die Europäische Kommission hat am 12. Dezember 2023 Empfehlungen zur Förderung der Bürgerbeteiligung in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) veröffentlicht [7]. Wenn der BLL nun meint: „Das Steuergeld, das für diesen scheindemokratischen Prozess ausgegeben wurde, hätte man besser den Landwirten zur Verfügung gestellt“, macht das nachdenklich.

Zum Vergleich: Der als Pilotprojekt aufwändige Bürgerrat Demokratie kostete 1,4 Mio. Euro. Im Jahr 2022 war allein der Lebensmitteleinzelhandel mit rund 2,6 Mrd. Euro die Branche mit den höchsten Werbeausgaben in Deutschland [8]. Viel Geld, das auch die Bauern erwirtschaften.

Die Teilnehmer*innen des Bürgerrats Ernährung haben viel Zeit und Konsensfähigkeit in die Vorschläge für wichtige gesellschaftliche Fragen investiert. Die Pressemeldung des BLL hingegen ist ein Musterbeispiel von unsachlicher Polemik, sie versucht Politikverdrossenheit zu schüren, bewirkt bei mir aber nur Lobby-Verdrossenheit.

Udo Maid-Kohnert


Quellen

  1. www.bundestag.de/resource/blob/984354/39efba25c218ee935e26f786abbce81c/Empfehlungen_buergerrat.pdf
  2. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), Pressemeldung vom 15.1.2024
  3. Lebensmittelverband Deutschland e. V. Pressemeldung vom 15.1.2024
  4. DDG/DANK Pressemeldung vom 15.1.2024
  5. www.buergerrat.de/buergerraete/bundesweite-buergerraete/
  6. www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/new-democracy/projektnachrichten/von-irland-lernen-wie-buergerbeteiligung-die-demokratie-veraendert
  7. https://commission.europa.eu/document/fcb629fe-ca20-4019-b1f6-392c286fdedf_en?prefLang=de
  8. https://de.statista.com/prognosen/75226/branchen-mit-den-hoechsten-werbeausgaben-in-above-the-line-medien
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