Mann mit Tabletten. © outline205 / iStock / Getty Images Plus
Auffällige psychiatrische Nebenwirkungen in den Studien waren Schlaflosigkeit, Angstzustände und Psychosen. © outline205 / iStock / Getty Images Plus

Unverständlich und gefährlich: Das neue Abnehmmedikament Mysimba

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit ist im Januar 2018 in Deutschland ein neues Medikament zur Unterstützung der Gewichtsreduktion auf den Markt gekommen – trotz erheblicher Sicherheitsbedenken. Bei Mysimba® handelt es sich um die kritisch zu betrachtende Kombination eines amphetaminartigen Antidepressivums mit einem Wirkstoff aus dem Drogenentzug.

Bei Mysimba® handelt es sich um Retardtabletten, die jeweils die Kombination von 8 mg Naltrexon-Hydrochlorid und 90 mg Bupropion-Hydrochlorid enthalten. Die Dosis soll laut Packungsbeilage von an- fangs einer Tablette täglich über 4 Wochen schrittweise auf die Erhaltungsdosis von zweimal täglich zwei Tabletten gesteigert werden. Anschließend ist die Anwendung von Mysimba® als langfristige Dauer- einnahme konzipiert. Einer der beiden Wirkstoffe des Kombinationspräparats ist Bupropion, das zur Gruppe der Amphetamine gehört und die Noradrenalin-Konzentration in den Synapsen des Gehirns erhöht; zusätzliche Wirkungen auf den Dopamin-Stoffwechsel sind strittig. Als Einzelsubstanz wird Bupropion bisher zur Raucherentwöhnung und zur Behandlung schwerer Depressionen eingesetzt. Nach der Erstzulassung in den USA im Jahr 1984 wurde Bupropion zwei Jahre später wegen des Risikos tödlich verlaufender Krampfanfälle vom Markt genommen. 1989 wurde es dann in niedrigerer Dosierung wieder in den Handel gebracht. Bekannte Risiken einer Bupropion-Anwendung sind erhöhte Suizidalität und vermehrte Depressionen. Zu den häufigsten Nebenwirkungen von Bupropion gehört – neben Angstzuständen, Schlaflosigkeit, Tinnitus, Bauchschmerzen, Hautausschlag, Fieber, allgemeiner Schwäche und Blutdrucksteigerungen – auch eine Appetitminderung.

Der zweite Wirkstoff der Mysimba®-Kombination ist Naltrexon, ein im Opiat- und Alkoholentzug eingesetzter Opioidrezeptor-Antagonist. Trotz seiner weiten Verbreitung in der Psychiatrie ist die Wirksamkeit von Naltrexon im Opiatentzug noch immer fraglich. Wie bei Bupropion ist auch bei Naltrexon die Appetitminderung eine bekannte Nebenwirkung – gemeinsam mit anderen häufigen Nebenwirkungen wie Schlaf- und Affektstörungen, Herzrasen, Herzrhythmusstörungen, Brust-, Gelenk- und Kopfschmerzen, Impotenz, allgemeiner Schwäche, Schüttelfrost und Hautausschlägen.

Angesichts dieser Aufzählung von nach Herstellerangaben häufigen (zwischen 1 und 10 pro 100) Nebenwirkungen wirkt die Idee, beide kritischen Wirkstoffe in einem Kombinationspräparat zusammenzuführen, befremdlich. Vollends unverständlich wird die Zulassung des Kombinationspräparats, wenn man sich die Indikation anschaut, für die Mysimba® eingesetzt werden darf: Mysimba® ist zugelassen zum „Gewichtsmanagement“ bei Erwachsenen mit einem BMI ≥ 30 kg/m² bzw. mit einem BMI ≥ 27 kg/m², wenn eine „gewichtsbezogene Begleiterkrankung“ vorliegt. Die Anwendung soll als Ergänzung zu einer kalorienreduzierten Diät und verstärkter körperlicher Bewegung durchgeführt werden. Falls die Patienten ihr Ausgangsgewicht unter Mysimba® nicht innerhalb von 16 Wochen um mindestens 5 % reduzieren können, soll die Therapie beendet werden. Als ein Beispiel einer „gewichtsbezogenen Begleiterkrankung“, die die Anwendung bereits bei einem BMI von 27 kg/m² ermöglicht, nennt der Hersteller die „kontrollierte Hypertonie“. Aus pharmakologischer Sicht erscheint das Konzept, bei übergewichtigen Bluthochdruckpatienten gleich zwei Wirkstoffe parallel anzuwenden, die beide zu Blutdrucksteigerungen und Herzrasen führen können, als sehr kritisch.

Die Zulassung von Mysimba® ab einem BMI ≥ 27 kg/m² erfolgte ohne Berücksichtigung eines Altersfaktors. Legt man das Konzept des altersabhängig „wünschenswerten BMI“ zugrunde, so bewegt sich der therapiedefinierende BMI von 27 kg/m² bereits in der Altersgruppe ab 45 Jahren innerhalb der wünschenswerten BMI-Spanne von 22–27 kg/m². Die Vorstellung, einem 45-Jährigem mit einem BMI von 27 kg/m² und Bluthochdruck die weiter blutdrucksteigernde Kombination von Amphetamin-Derivat und Opioidrezeptor-Blocker mit erheblichen Nebenwirkungen zu verordnen, ist vollkommen absurd. Die Zulassungsbehörden haben das offensichtlich anders gesehen.

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Die Zulassung von Mysimba® war – vor diesem Hintergrund mehr als verständlich – von Anfang an sehr umstritten. So hatten insbesondere die französische und die irische Arzneimittelbehörde erhebliche Sicherheitsbedenken. Schließlich waren in den vergangenen Jahren fast alle amphetaminhaltigen Diätmedikamente vom Markt genommen worden – wegen eines negativen Nutzen-Risiko-Profils und schwerwiegender, teilweise tödlich verlaufender Nebenwirkungen. Letztes Beispiel dieser risikobegründeten Marktrücknahme war Sibutramin (Reductil®, 2010). Die europäische Arzneimittelbehörde EMA erteilte Mysimba® dennoch 2015 die Zulassung [1] und mit Beginn des Jahres 2018 hat die Vermarktung auch in Deutschland begonnen. Die Zulassung basiert auf vier doppelblind-randomisierten Studien (28–56 Wochen Studiendauer), bei denen 505 bis 1 742 Erwachsene Mysimba® einnahmen – kombiniert mit Diät, verstärkter körperlicher Aktivität und Verhaltensschulungen [2–5]. Der BMI der Studienteilnehmer lag zwischen 27 und 45 kg/m², das mittlere Körpergewicht zwischen 99 und 106 kg. Kardiovaskuläre Vorerkrankungen hatten weniger als 1 % der Teilnehmer – was in der Realität deutlich anders aussehen dürfte. Die Gewichtsabnahme im Vergleich zum Ausgangsgewicht betrug durch Mysimba® 5–9,3 %, durch Placebo 1,3–5,1 % (statisch signifikanter Unterschied). Die Differenz zwischen der Mysimba®- und der Placebo-Gruppe lag zum Studienende bei 3–5 kg. Die von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration (FDA) geforderte Mindestdifferenz von 5 % zwischen Wirkstoff- und Placebo-Gruppe [6] wurde damit in keiner der vier Studien erreicht.Eine mindestens 5 %ige Reduktion des Ausgangsgewichts erreichten 45–66 % der Mysimba®- und 16–43 % der Placebo-Gruppe (statisch signifikanter Unterschied).

Wie sich die langfristige Gewichtsentwicklung nach Absetzen des Medikaments verhält, ist nicht bekannt. Vorläufige Ergebnisse deuten jedoch auf eine Gewichtszunahme hin[1]. Vollständig unbekannt ist bislang, wie sich Mysimba® auf Adipositas-assoziierte Begleiterkrankungen oder die Mortalität auswirkt. Während drei Patienten unter Mysimba®-Therapie einen Herzinfarkt erlitten, gab es in den Placebo-Gruppen keinen Herzinfarkt. Auffällige psychiatrische Nebenwirkungen in den Studien waren Schlaflosigkeit, Angstzustände und Psychosen.

Der exakte Mechanismus, über den Mysimba® zur Appetitminderung und einer folglichen Gewichtsabnahme führt, ist unklar. Doch die genannten Zulassungsstudien liefern deutliche Hinweise: Insgesamt brachen doppelt so viele Teilnehmer der Mysimba®-Gruppe die Studie vorzeitig ab im Vergleich zu Teilnehmern der Placebo-Gruppe (24 % vs. 12 %) – was weder für die Wirksamkeit noch für die Verträglichkeit spricht. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehörten Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen; dass auch diese Nebenwirkungen maßgeblich zur „Appetitminderung“ beitragen, ist anzunehmen. Ob beide Wirkstoffe daneben auch direkt appetitmindernd wirken, indem sie das Appetitregulationszentrum im Hypothalamus und das mesolimbische Belohnungssystem beeinflussen, ist nicht geklärt.

Sowohl die amerikanische als auch die europäische Arzneimittelbehörde halten weitere Studien zur Sicherheit von Mysimba® für zwingend erforderlich und haben sie zur Auflage der erteilten Zulassung und bereits erfolgten Vermarktung gemacht. Die Ergebnisse dieser Sicherheitsstudien werden allerdings frühestens für das Jahr 2022 erwartet. Der arzneimittelrechtlich unbewanderte Laie würde vermutlich erwarten, dass eine Zulassung erst dann erteilt wird, wenn diese Sicherheitsdaten vorliegen. Dem ist im Fall von Mysimba® jedoch nicht so. Aufgrund der aktuell verfügbaren Studiendaten ist es weder pharmakologisch noch ernährungsmedizinisch nachvollziehbar, dass Mysimba® die Zulassung erteilt wurde. Über die Hintergründe dieser Entscheidung kann man nur spekulieren.

Bei unklarer Wirksamkeit, kritischer Nutzen-Risiko-Relation, möglichen schwerwiegenden Nebenwirkungen und unbekannter Auswirkung auf die mittelfristige Gewichtsentwicklung und die Sterblichkeit sollte von der Anwendung von Mysimba® dringend abgeraten werden. Patienten, die unterstellen, die Sicherheit eines Arzneimittels könne vorausgesetzt werden, nur weil es von den Behörden zugelassen wurde, sollten auf die fehlenden Daten zur kardiovaskulären Sicherheit, zur Mortalität und zu unbekannten Langzeiteffekten aufmerksam gemacht werden. Weiter erleichtert wird die Entscheidung möglicherweise durch den Preis: Die monatlichen Therapiekosten für Mysimba® betragen aktuell 124 €; das einzige von der aktuellen Adipositas-Leitlinie empfohlene Abnehmmittel Orlistat kostet zum Vergleich monatlich ca. 30 €.

Martin Smollich



Hinweis: Dieser Diskussionsbeitrag ist eine bearbeitete Fassung des Beitrags „Mysimba® kommt: Gefährliche Diätpille zugelassen“ im Ernährungsmedizin-Blog des Autors. 

Dieser Artikel erscheint außerdem in der ERNÄHRUNGS UMSCHAU 5/2018.



Literatur:
1. European Medicines Agency (EMA). Zusammenfassung des Europäischen Öffentlichen Beurteilungsberichts (EPAR) für Mysimba. EMA/247783/2015. Veröffentlicht am 19.12.2014; zuletzt aktualisiert am 06.02.2018. Zugriff 23.04.18

2. Greenway FL, Fujioka K, Plodkowski RA et al. (2010) Effect of naltrexone plus bupropion on weight loss in overweight and obese adults (COR-I): a multicentre, randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3 trial. Lancet 376: 595−605

3. Wadden TA, Foreyt JP, Foster GD et al. (2011) Weight loss with naltrexone SR/ bupropion SR combination therapy as an adjunct to behavior modification: the CORBMOD trial. Obesity 19: 110−120

4. Hollander P, Gupta AK, Plodkowski R et al. (2013) Effects of naltrexone sustained-release/ bupropion sustained-release combination therapy on body weight and glycemic parameters in overweight and obese patients with type 2 diabetes. Diabetes Care 36: 4022−4029

5. Apovian CM, Aronne L, Rubino D et al. (2013) A randomized, phase 3 trial of naltrexone SR/bupropion SR on weight and obesity- related risk factors (COR-II). Obesity 21: 936−943

6. US Food and Drug Administration (FDA). Briefing document advisory committee meeting, 7. Dez. 2010. Zugriff 23.04.18

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