Kasseler Erklärung: Fachgesellschaften fordern politsche Anerkennung professioneller Ernährungsinterventionen
- 22.06.2018
- Online PLUS
- Myrna Apel
Den Auftakt des Fachkongresses „Ernährung 2018“ bildete eine umfangreiche Pressekonferenz, in der sich die Vertreterinnen und Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin e.V. (DGEM), des BerufsVerbands Oecotrophologie e.V. (VDOE) und des Bundesverbands Deutscher Ernährungsmediziner e.V. (BDEM) gemeinsam dafür aussprachen, von der Politik gesetzliche Strukturen einzufordern, die eine multidisziplinäre, sektorenübergreifende und qualitätsgesicherte Ernährungsversorgung möglich machen.
„Wir haben in den letzten Jahren gelernt, dass Ernährung in vielen medizinischen Fällen eine therapeutische Potenz und damit genau den gleichen Stellenwert wie ein Medikament hat", sagte Prof. Dr. med. Christian Löser, Kongresspräsident der DGEM, in Kassel. Dies gelte natürlich auch für die Prävention, so dass heute ein Paradigmenwechsel stattgefunden habe, weg von Ernährung als Grundbedürfnis, hin zu Ernährung als Therapie. Ernährungsmediziner sollten aufgrund der vielen neuen Studienergebnisse künftig selbstbewusster mit ihrem Wissen auftreten. „Für die drei Hauptschwerpunkte des Kongresses Adipositas, Mangelernährung und Ernährung bei Krebs wollen wir unsere Position in den nächsten Tagen deutlicher klarmachen", so Löser weiter.
Übergewicht und Adipositas: Ursache und nicht Folgeerkrankungen therapieren
Das Überangebot an Nahrung kombiniert mit weniger Bewegung führt zu immer mehr Adipositas-Betroffenen. Dies fördert bekanntermaßen sogenannte Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus und Bluthochdruck, aber auch Krebs in diversen Formen. „Die Massenphänomene Übergewicht und Adipositas zeigen sich dabei ganz deutlich in den Zahlen, denn bereits 20 Prozent der Bevölkerung sind adipös, ein Prozent extrem adipös und 50 bis 60 Prozent übergewichtig. Wir haben die Umwelt, die Gene, die Hormone, die Psyche und noch viele weitere Ausreden, warum wir zu viel essen, das ist ein Riesenproblem", erläuterte Prof. Dr. med. Johannes G. Wechsler, Kongresspräsident für den BDEM.
Seit die WHO Adipositas als chronische Erkrankung führt, sei viel passiert. Die Ernährungsmediziner hätten etwa Leitlinien konzipiert und das Therapieprogramm sei vielfältiger geworden. „Trotz dessen haben wir keine klare Linie. Die Langzeitergebnisse aller Therapiebemühungen sind nicht besonders gut, weil sie finanziell und strukturell nicht abgebildet werden. Eine Adipositas-Therapie läuft derzeit vier Wochen und dann ist Schluss – das wäre bei Diabetes unvorstellbar. Wir investieren Milliarden in die Behandlung der Folgeerkrankungen, dabei müssen die Ursachenbehandlung und die Früherziehung ausgebaut werden", so Wechsler. Die Stichworte des Experten hier: Prävention und Langzeittherapie. Wechsler räumte in diesem Zusammenhang auch ein, dass mit den Forderungen der Fachgesellschaften auch gegen Besitzstände angekämpft werde und ein Umdenken der Ärzteschaft erfolgen müsse: „Hier wird viel Geld zum Beispiel unsinnig für Medikamente ausgegeben und die Politik muss endlich handeln."
In der "Kasseler Erklärung" fordern die Experten unter anderem, dass Präventionsmaßnahmen in alle Lebensbereiche Eingang finden sollen, wie etwa in Kitas, Schulen, Gastronomie und Supermärkten. Außerdem müsse Adipositas als (chronische) Krankheit mit multifaktoriellen Ursachen (Psychopharmaka, Stigma, Armut, Arbeitsbedingungen etc.) anerkannt werden.
Schwerpunkt Mangelernährung: 170 Milliarden unmittelbare Kosten
Jeder vierte Patient, der in Deutschland in eine Klinik aufgenommen wird, ist mangelernährt. Ursachen sind häufig die Krankheit selbst, aber auch das Alter oder der soziale Status. „Tatsächlich ist es verdammt schwierig, in einer immer adipöseren Gesellschaft den Mangelernährten zu erkennen. Auch Übergewichtige können mangelernährt sein", so Löser. Gleichzeitig sei Mangelernährung ein unabhängiger Risiko- und Kostenfaktor. Beim diesem Thema stelle sich die Therapiesituation jedoch zum Glück ganz anders dar als bei Adipositas: Ein kurzes Screening bei Aufnahme eines Patienten in die Klinik könne bereits sehr viel bewirken.
„Bei chronisch Kranken, Tumorpatienten und älteren Menschen ist das Thema massiv und wenn wir das Screening – so wie wir Ernährungsmediziner es schon lange fordern – flächendeckend durchsetzen, dann können wir diese 25 Prozent Betroffenen mit einem Risiko rauspicken und haben exzellente Möglichkeiten, diesen Menschen zu helfen", betonte Löser weiter. Solche Screenings bestehen in der Regel aus einem Score-System, das die Daten ohne großen Zeit- und Kostenaufwand erfasst. Empfohlene Screening-Instrumente sind hier laut DGEM zum Beispiel
- Subjective Global Assessment (SGA) und
- Nutritional Risk Screeening (NRS).
„Es gibt bereits ambitionierte und erfolgreiche EU-Projekte wie etwa das Projekt ‘Stop Malnutrition’, doch wir hier in Deutschland hinken meilenweit hinterher. Man wird jedoch nichts politisch durchsetzen können, wenn man nicht gleichzeitig beweisen kann, dass man kosteneffizient arbeitet und das kann man für Mangelernährung heute wissenschaftlich definitiv. Immer noch werden 170 Milliarden Euro jährlich für die Behandlung von Mangelernährung ausgegeben. Unsere Forderungen sind daher, dass das, was eigentlich bereits bekannt ist und die EU in diversen Programmen fordert, endlich auch in Deutschland umgesetzt wird", betonte Löser.
In der "Kasseler Erklärung" aufgeführt sind zu diesem Schwerpunkt als Forderungen unter anderem das konsequente Umsetzen moderner ernährungsmedizinischer Erkenntnisse im Krankenhaus und im ambulanten Sektor etwa durch Anwendung des bereits etablierten einfachen, schnellen, wissenschaftlich evaluierten Ernährungsscreenings. Darüber hinaus sei es wichtig, dass Behandlungs- und Präventionsqualität einer gezielten professionellen Ernährungsintervention bei mangelernährten Patienten durch die Gesundheitspolitik und die Kostenträger anerkannt werden.
Schwerpunkt Krebs: Übergewicht hält Tumorerkrankung am Leben
Bekannt ist, dass Übergewicht Tumorerkrankungen fördern und Mangelernährung wiederum die Prognose eines Patienten deutlich verschlechtern kann. Welche Rolle Ernährung bei der Krebsentstehung spielt, welche sie bei der Krebstherapie übernimmt und wie damit professionell umgegangen werden kann, um den Patienten bestmöglich zu unterstützen, erläuterte Professor Dr. med. Hartmut Bertz, Oberarzt der Klinik für Innere Medizin I und Sektionsleiter Ernährungsmedizin und Diätetik am Universitätsklinikum Freiburg: „Adipositas als Risikofaktor wird definitiv zunehmen, es werden mehr Tumoren auftreten und vor allem auch früher im Leben", sagte Bertz. Bei etwa 13 Tumorerkrankungen sei definiert worden, dass Adipositas mit den Tumoren direkt zusammenhänge. Bis zum Beispiel aus einer veränderten Darmzelle heraus ein Tumor entsteht, würden 15 bis 20 Jahre vergehen. „Als Jugendliche oder junge Erwachsene legen wir dafür also den Grundstein, dass wir mit 40 oder 50 Jahren einen Tumor bekommen und dies zeigen auch die Statistiken dazu – die Leute werden immer jünger." Übergewicht als chronische Entzündung animiert die Zelle dazu, sich bösartig weiterzuentwickeln.
Anschließend passiere das, so der Experte, was viele übergewichtige Patienten zunächst erfreut, bei denen ein Tumor erkannt wurde: Sie nehmen ab. Doch tatsächlich stellen die behandelnden Ärzte danach recht schnell eine Mangelernährung fest, bei 80 Prozent der Patienten sei dies der Fall. „Die Tumorzellen sorgen wieder für eine Inflammation, sie stehen unter Stress und der Patient nimmt ab. Aber er verträgt dann natürlich auch die Chemotherapie oder andere Behandlungen schlechter, da der Patient aufgrund der Mangelernährung mehr Infekte bekommt. Eine Chemotherpaie zieht sich so sehr in die Länge und die Tumorzellen erholen sich wieder. Die Lebensqualität sinkt und auch die Überlebenschancen." Das Screening von Patienten bei der Aufnahme in der Ambulanz helfe hier ungemein, da sie direkt zu einer Ernährungsfachkraft überwiesen werden können.
Laut "Kasseler Erklärung" fordern die Fachgesellschaften einen regelmäßiges, verpflichtendes Ernährungsscreening sowie der Zugang zu einem professionellen Ernährungsmanagement als effektiver, integraler Bestandteil einer modernen multimodalen Krebstherapie.
Ernährungstherapie strukturell verankern
Was für unsere künftige Ernährungsversorgung entscheidend ist, erläuterte Ingrid Acker, Kongresspräsidentin des des BerufsVerbands Oecotrophologie e.V. (VDOE) und stellvertretende Vorstandsvorsitzende des VDOE. Sie vermisst den Langzeitansatz – es gäbe zu viele Teillösungen und es fehle an kreativen Lösungsprozessen. „Es gibt heute ein Überangebot an Essen und die Menschen sind überfordert. Sie erfahren eine fast schon bulimische Anflut von Information, die sich teils widersprechen. Außerdem ist der Begriff Ernährungsberatung immer noch nicht geschützt, jeder könne sich ein Schild an die Tür hängen und sagen 'Ich bin Ernährungsberater'." So könnten die wenigsten unterschieden, wer qualifiziert ist und wer womöglich kommerzielle Ideen verbreiten will.
„Solange qualifizierte Ernährungsfachkräfte in den Kliniken nicht als Therapieelement abbildbar sind, werden sie immer zwischen zwei Stühlen stehen." Acker fordert mehr multidisziplinäre Teams, die Ernährungstherapie einschließen. Es sei ungemein wichtig, dass die Ernährungstherapie endlich als Therapieinstrument anerkannt werde.
Früh für Ernährungsmedizin und -therapie sensibilisieren
Professor Dr. med. Johann Ockenga, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin e.V. (DGEM), erläuterte abschließend, was sich im Bereich Ernährungsmedizin und Ernährungstherapie als wichtiger Teil der Patientenversorgung künftig noch ändern muss. Der Schwerpunkt sei hier bereits im Studium zu setzen, so Ockenga, weshalb gerade auch eine Überarbeitung des Lernzielkatalogs für Studierende der Medizin stattfinde. „Das Thema muss früh angesprochen und in der Ausbildung platziert werden, in der ärztlichen Ausbildung wie auch in der Pflege und angrenzenden Fachgebieten." Außerdem habe man kürzlich den Erfolg vermelden können, dass Ernährungsmedizin nun als Zusatzweiterbildung für Ärzte anerkannt ist. Dies sei ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Auch Ockenga war es nochmal wichtig zu betonen, dass die Ernährungsmedizin fest im Gesundheitssystem verankert werden sollte, Prävention und Ressourcenbereitstellung funktionieren müssen und der Gesetzgeber gefordert sei, Qualitätsrichtlinien vorzugeben.
Am Ende der Pressekonferenz wurde die "Kasseler Erklärung" gemeinsam von Johannes Georg Wechsler, Ingrid Acker, Christian Löser, Kerstin Wriedt (Vorstandsvorsitzende VDOE e.V.) und Johann Ockenga unterschrieben.
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