Kartoffel, Tomate und Co.: Fragwürdige Diskussion um lektinhaltige Lebensmittel
- 31.01.2018
- Online PLUS
- Prof. Dr. Helmut F. Erbersdobler
Im Verlauf der letzten 40 Jahre haben sich viele der damals als unerwünscht geltenden „abträglichen“ Verbindungen in Lebensmitteln als positive sekundäre Pflanzenstoffe beziehungsweise Functional Food-Ingredienzien herausgestellt. Heute geht der Weg teilweise wieder zurück im Sinne einer „Verteufelung“, ausgelöst von den einfachen Nährstoffen Laktose und Fruktose sowie von Gluten, Glutamat etc. In einer kürzlich aus den USA herübergeschwappten Buchveröffentlichung von Steven R. Gundry werden besonders die Lektine gebrandmarkt.
Damit wird eine Vielzahl lektinhaltiger Lebensmittel wie viele Getreidesorten oder Leguminosen diffamiert. Gundry erweitert den Kreis der negativ bewerteten Lebensmittel um Kartoffeln, Tomaten und andere Gemüsesorten. Die Liste für erlaubte Lebensmittel ist dagegen nicht sehr reichhaltig und dort werden unter anderem mit den Nüssen auch unverträgliche, weil potentiell allergene Produkte genannt.
Lektine lassen sich beherrschen
Nun können die Lektine (auch Phytohämagglutinine genannt) tatsächlich unangenehme Wirkungen entfalten. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts wurde zum Beispiel über Vergiftungen bei Kindern und Hunden berichtet, die das starke Toxin Ricin über Rasendünger mit unerhitztem Ricinusschrot im Garten spielend aufgenommen hatten. In den Lebensmitteln lassen sich die Lektine jedoch durchaus beherrschen. Als Proteine können sie, wie auch die oft zusammen mit ihnen auftretenden Enzym-Inhibitoren, durch Erhitzen denaturiert werden und verlieren dadurch ihre gefährliche Wirkung.
Andere Methoden der „Entschärfung“ abträglicher Wirkungen sind Auslese (etwa von grünen oder gekeimten Kartoffeln, die das Alkaloid Solanin enthalten, oder von Mutterkorn aus Roggen), Züchtung (glukosinolatfreier Raps, bitterfreie Mandeln) oder längeres Wässern und offenes Kochen (Verminderung der Blausäure in bestimmten Bohnen oder Maniok).
Natürlich bleiben in einigen Fällen Reste erhalten, das sei zugestanden. Doch Intoxikationen treten dabei nicht auf, wenn man sich vielseitig und abwechslungsreich ernährt. Daher sind Berichte über Intoxikationen immer nur bei Ernährung mit extremen Mengen der entsprechenden Lebensmittel aufgetreten – etwa mit der Limabohne, mit Maniok oder bei Platterbsen (Lathyrogene, die Krämpfe und Lähmungen verursachen). Auf jeden Fall sollten neue oder neu generierte Lebensmittel genau geprüft werden.
Viele sekundäre Pflanzenstoffe wirken positiv
Wichtig ist auch, dass man seine eigene Verträglichkeitsgrenze kennen sollte, denn nicht jeder Mensch ist gleich empfindlich. Dies gilt nicht nur für die Verträglichkeit von Laktose, Fruktose oder Gluten, sondern auch für Lektine, phenolische Verbindungen und weitere Beispiele. Und man sollte auch die positiven Wirkungen, die viele dieser sekundären Pflanzenstoffe ausüben (siehe oben) nicht vergessen.
Wenn man die vielen Befindlichkeiten und deren Unterschiedlichkeit bedenkt, dann wundert es einen nicht, dass Heilsprediger immer genügend Personen finden, mit denen sie bestimmte Theorien glaubhaft vermitteln können. Hüten wir uns vor solchen oft von Eitelkeit oder Gewinnstreben geprägten „Aufklärern“. Die Menschheit ist in der Wahl ihrer Nahrung und im Umgang mit ihr seit Jahrtausenden geschult und hört auch deshalb noch nicht auf, ständig älter zu werden.
Helmut Erbersdobler