Editorial: Wende in der Regierung – Wende in der Ernährungspolitik?

Ein Jahr mit teils ziemlich (un)erwarteten Verläufen liegt hinter uns. Die Expertenvorhersage, dass das winzige, unsichtbare SARS-CoV-2-Virus sehr hartnäckig, hintertückisch und hochgradig mutierfähig ist und nicht so schnell, wie es fast alle Erdwinkel erreicht hat, auch wieder verschwinden wird, ist leider – und zum großen Erstaunen einer offenbar deutlich überforderten Gesundheits- und Innenpolitik – wahr geworden. Nach den massiven Lockdown-Einschränkungen stellte sich ab Frühsommer 2021 sogar so etwas wie Normalität ein, bevor die Pandemie im Spätherbst wieder entsetzlich Fahrt aufnahm. Die Unsicherheit über die weitere epidemische Entwicklung und die gleichzeitig verstärkt zu beobachtenden gesellschaftlichen Verwerfungen werden uns wohl noch einige Zeit begleiten.

Sicherheit haben wir wenigstens über die uns jetzt Regierenden. Hatten Wettbüros Anfang 2021 noch 10:1 auf eine CDU-geführte Regierung gesetzt, haben viele wechselwillige WählerInnen zu dem bekannten Wahlergebnis geführt und frühe Wahlprognosen widerlegt. Der inzwischen in Kraft getretene Koalitionsvertrag widmet ganze 18 Zeilen (Zeile 1430–1449) dem für uns wichtigen Thema Ernährung bzw. der Ernährungspolitik. Positiv hervorzuheben ist, dass „mit den Akteuren bis 2023 eine Ernährungsstrategie“ erarbeitet und beschlossen werden soll, dass die DGE-Standards zur Gemeinschaftsverpflegung stärker etabliert werden sollen, inkl. der Vernetzungsstellen, dass Lebensmittelverschwendung reduziert und alternative Proteinquellen gestärkt werden sollen, dass an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt eingeschränkt werden und der Nutri-Score weiterentwickelt werden soll – alles Themen, bei denen die DGE mit ihren ExpertInnen im wissenschaftlichen Präsidium und in der Hauptgeschäftsstelle wichtige Aspekte beisteuern kann.
Die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK)1 und andere kritische Stimmen betonen zwar, dass die genannten Ziele in die richtige Richtung gehen und jetzt Chancen für eine ambitionierte Ernährungspolitik bestehen. Sie mahnen aber gleichzeitig an, dass vieles bisher noch sehr vage und wenig konkret ist, dass verbindliche Regelungen anstelle freiwilliger Selbstverpflichtungen treten müssen, dass „viele Möglichkeitsfenster für reale Fortschritte“ bestehen und dass eine stärkere Mitarbeit der Lebensmittelwirtschaft bei der Erarbeitung der Ernährungsstrategie mehr als kontraproduktiv sein wird. In der ersten BMEL-Pressemitteilung2 betont der neue Bundesminister Cem Özdemir die Bedeutung der Landwirtschaft für die Produktion von Lebensmitteln und die Transformation zu mehr Tierwohl, Umwelt-, Klima- und Artenschutz. Die dringend notwendige Transformation der Ernährungssysteme hin zu einer gesundheitsförderlichen Ernährung steht bisher offenbar nicht auf seiner Agenda.
Passend hierzu haben wir für Sie in dieser Ausgabe einen Beitrag von Peter von Philipsborn zum Thema „Wissenschaftliche Evidenz in der Ernährungspolitik“ (S. M22) und zusätzlich ein Interview mit Dinah Stratenwerth vom Bildungsprojekt Food Justice über Steuerungsinstrumente im Ernährungssystem (S. M30).

Ich wünsche Ihnen, Ihren Familien und Freunden im neuen Jahr möglichst viele unbeschwerte Monate und weiterhin einen konstruktiv-kritischen Blick auf unsere Ernährungspolitik.

Ihr Helmut Heseker
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1 Pressemitteilung DANK vom 8.12.2021
2 Pressemitteilung des BMEL vom 8.12.2021



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 1/2022 auf Seite M1.

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