Fleischersatz – vegetarisch gut

Nostalgisch – die Erinnerungen an das Soja-Gyros in der Gießener Uni-Mensa Anfang der 1990er Jahre. Geschmack ganz gut, Konsistenz Radiergummi, haben wir angehende OecotrophologInnen es zuweilen gewählt, als eine Soja-Bratwurst in Mittelhessen noch Anlass zu Schmähungen und Augenverdrehen war. Heute entstehen bei den Wenig- oder Gar-kein-Fleischmehr-EsserInnen der (späten) Generation Baby-Boomer und X hingegen zuweilen schon interessierte Fachgespräche über sog. Ersatzprodukte. „Hast du schon mal das ‚Like/Sensational/Green‘ etc. probiert?“ „Ja, aber mir schmeckt das Vegetarian/Chick Chick/Veganlove etc. besser.“

Im letzten Jahrzehnt ist der Markt für Fleischersatzprodukte regelrecht explodiert. Die Produkte der ersten Hype-Phase vor fünf bis zehn Jahren waren geschmacklich noch sehr in der Testphase, die Hauptrohstoffe beschränkten sich häufig auf Soja, Weizen, Hühnerei und die Liste der Zusatzstoffe erstreckte sich über die halbe Verpackung. Doch so wie die Zahl der Produkte emporschnellt, galoppiert auch die Entwicklung der Rezepturen voran. Gleichzeitig nimmt die Zahl der flexitarisch, vegetarisch und vegan essenden Menschen deutlich zu. Vor allem Ursache, aber vielleicht auch ein wenig Folge dieses verbesserten Angebots?
Nun mahnen Ernährungsinstitutionen und -fachkräfte: Solche industriellen Ersatzprodukte brauche man gar nicht, um vegetarisch zu essen. Nein, brauchen tun wir das nicht. Wir Ernährungsfachkräfte können natürlich ohne Ersatzprodukte vegetarisch lecker kochen.
Aber was machen Menschen, die im Supermarkt auch sonst vorgefertigte Produkte nachfragen und nun weniger Fleisch essen wollen? Für diese nicht kleine Zielgruppe sind vegetarische Schnitzel, Filets oder Bratwürstchen eine Bereicherung für den Kochalltag neben Beruf, Studium und/oder evtl. Familie.
So vieles in unseren Supermärkten „brauchen“ wir nicht. Viele Fleischersatzprodukte zählen zu den hochverarbeiteten Produkten, von deren übermäßigem Verzehr wir Ernährungsfachkräfte abraten, stimmt. Aber können wir nicht auch etwas Gutes darin sehen, dass plötzlich mehr vegetarische Produkte nachgefragt werden, zumal auch Rohstoffvielfalt, Zusätze und Abfallverwertung immer besser werden? An dieser Stelle sollten wir uns m. E. genau überlegen, worauf wir uns als Fachkräfte und Institutionen öffentlichkeitswirksam fokussieren, bspw. gegen Werbung für Snacks/ Süßigkeiten/Kinderlebensmittel, gegen gesundheitsgefährdende „Diäten“ und v. a. für eine verbesserte Gesundheitsbildung. Diese fördert die Einkaufs- und Kochkompetenz und senkt in der Folge evtl. die Nachfrage nach Fertigprodukten. Arroganz à la „wir brauchen das alles nicht“ bringt uns bei den Zielgruppen, die wir schon bisher nicht erreicht haben, ganz sicher nicht weiter.

Dr. Sabine Schmidt



Den Nachschlag finden Sie wie auch die Vorschau auf die nächste Ausgabe in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 2/2023 auf Seite M136.

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